Der Kessel brodelt wie noch nie
„Ich liebe meine Kirche und ich leide an ihr“: Der Satz von Schwester Philippa Rath war als Bekenntnis an diesem Nachmittag im Wiesbadener Roncalli-Haus mehrfach zu hören. Unter dem Titel „Um Gottes Willen? Wie geht es weiter mit der Kirche?“ sprachen am Montag, 11. Oktober, die Teilnehmer einer Podiumsveranstaltung sehr persönlich von ihrem Glauben und ihrem Kirchenverständnis. Ebenso wie die Benediktinerin aus der Abtei Sankt Hildegard sparten auch der Frankfurter Stadtdekan Johannes zu Eltz und Elisabeth Kessels, ehemalige Gemeindereferentin und heute in der Pfarrei St. Peter und Paul bei Maria 2.0 engagiert, nicht an Kritik. Alle drei aber verbreiteten dennoch eine gute Portion Zuversicht. Eingeladen hatte der Seniorenbeirat der Stadt Wiesbaden in Kooperation mit der Katholischen Erwachsenenbildung und dem Evangelischen Dekanat. Der unter Corona-Bedingungen voll besetzte Sall machte deutlich, dass zumindest bei der angesprochenen Altersgruppe das Interesse an der Kirche bei allen Widrigkeiten noch groß ist.
Diagnose: Kernschmelze
Noch – denn die Austrittszahlen sprechen eine deutliche Sprache, wie Moderatorin Barbara Wieland eingangs erläuterte. Die Frankfurter Theologin und Kirchenhistorikerin skizzierte einige der Aktionen der letzten Jahrzehnte, die sich eine Reform der katholischen Kirche auf die Fahnen geschrieben hatten, angefangen beim Kirchenvolksbegehren vor 25 Jahren, endend beim synodalen Weg, bei dem Wieland - wie zu Eltz und Rath - aktiv beteiligt ist. Alle hatten ihren Ausgangspunkt, wie sie sagte, im Aufdecken von sexuellem Missbrauch durch Kleriker. Um als Kirche wieder an Glaubwürdigkeit zu gewinnen, müsse Missbrauch verhindert werden. „Wir können nicht in immer kürzerer Taktfolge ähnliche Initiativen ausrufen, wenn sich dann doch nichts ändert." Dann träten die Katholiken weiter aus ihrer Kirche aus, mahnte sie, und sprach in diesem Zusammenhang von einer „Kernschmelze“. Es betreffe gerade diejenigen, die seit Jahren engagiert seien: "Das kommt aus dem Innersten."
Eine andere Verfasstheit von Kirche
Elisabeth Kessels, „gut katholisch sozialisiert“, entwickelte schon in der Jugend einen kritischen Blick auf die Kirche. „Die guten Kapläne und Pfarrer heirateten, konvertierten oder gingen ganz“, erinnerte sie sich. Früh setzte sie sich für Veränderungen ein, unter anderem als erste Bundeskuratin der Pfadfinderinnenschaft St. Georg (PSG), zu der sie im Jahr 2000 gewählt worden war. In der Pfarrei St. Peter und Paul initiierte sie die Veranstaltungsreihe „Christen sagen ihre Meinung“. Ihr Einsatz für Rechte von Frauen in der Kirche führte sie zu der Initiative Maria 2.0, deren Anliegen sie aus Überzeugung unterstützt. Über Themen wie die Zulassung von Frauen zu Weiheämtern, ein neues Verständnis von Sexualität oder die Sinnhaftigkeit des Pflichtzölibats zu reden, sei dringend geboten, ist Elisabeth Kessels überzeugt. Ob Frauen innerhalb der derzeitigen Strukturen überhaupt etwas ändern könnten, bezweifelt sie allerdings. Sie kann sich, so erklärte sie, auch eine ganz andere Verfasstheit von Kirche vorstellen.
Den Betrieb am Laufen halten
Im Blick auf die Kirche von Strukturen zu reden, war ihm jahrelang nicht nur fremd, sondern zuwider. Das bekannte freimütig der Frankfurter Stadtdekan, der den entsprechenden Wendepunkt in seinem Leben genau terminieren kann: Die Ereignisse rund um die Amtszeit von Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst. Ausschlaggebend seien nicht mal die „Lügen, die Leuteschinderei, die Geldverschwendung“ gewesen, sondern „das Vorgehen der Leute in der römischen Zentrale.“ Sie seien als Schadensregulierer gekommen, um den Betrieb am Laufen zu halten, ohne Interesse „am Blutzoll, den die Regierungszeit (Tebartz-van Elsts) gekostet hat“. Da habe er erkannt, dass es ein System gibt und systemische Gründe für Missstände. Wichtig ist ihm dabei, dass sein veränderter Blick auf die Kirche, die im Kern eben nicht nur gut sei, "nicht das Geheimnis der Erlösung diskreditiert, sondern es sogar vertieft." Wie sehr er der Kirche weiterhin zugetan ist – wenn auch nach seinen eigenen Worten nicht mehr wie ein Kind, sondern wie ein Erwachsener – bekundete er zur leisen Überraschung der Anwesenden sogar musikalisch, indem er kurzerhand ein paar Liedzeilen von Reinhard Mey zum Besten gab: „Wie vor Jahr und Tag, liebe ich dich doch. Vielleicht weiser nur und bewusster noch.“
Miteinander auf Augenhöhe im Kloster
Auch Philippa Rath berichtete von einem Schlüsselerlebnis. Die studierte Theologin und Politikwissenschaftlerin, die über ihre Arbeit als Journalistin auf die Benediktinerinnen aufmerksam geworden war und sich daraufhin für das Ordensleben entschied, schilderte das Leben im Kloster als gutes Vorbild. Dort gebe es bereits demokratische Strukturen, zum Beispiel durch die Wahl der Äbtissin, die Bischofsrang habe. Die Kirche könne sich hier einiges abschauen. „Ein Miteinander auf Augenhöhe ist bei uns seit 1500 Jahren gelebtes Leben.“ Ganz anders die Sitzordnung bei der Erhebung der Heiligen Hildegard zur Kirchenlehrerin 2012 in Rom. Während hunderte geistlicher Herren die vorderen Ränge besetzten, waren die zwei Äbtissinnen, immerhin die Nachfolgerinnen der Heiligen, „hinter die Messdiener platziert worden.“ Dieser Blick auf die „Machtstrukturen der Männerkirche“ habe sie zum Verzweifeln gebracht – und zum Entschluss, den Frauen in der Kirche eine Stimme zu geben. Viel Beachtung findet derzeit das im Februar von ihr veröffentliche Buch, in dem sie unter dem Titel „…weil Gott es so will“ weibliche Berufungsgeschichten gesammelt hat. Sie selbst werde noch erleben, dass Frauen geweiht würden, erklärte sie voller Zuversicht.
Der Kessel brodelt
„Der Kessel brodelt deutlich mehr als vor 30 Jahren, das ist eine deutliche Meinungsäußerung des Kirchenvolkes“, begründete die Ordensfrau auf Nachfrage aus dem Publikum diese Einstellung. Und das sei alles andere als ein deutsches Phänomen, sondern auf allen Kontinenten spürbar. Die von ihr geäußerte große Hoffnung, die sie in den synodalen Weg setzt, wird auch von Elisabeth Kessels geteilt. Die inhaltliche und atmosphärische Stimmung dort sei viel besser als die Berichterstattung darüber, beklagten die Frauen auf dem Podium, während zu Eltz zumindest um ein wenig Verständnis für die so Gescholtenen warb. Man habe sich schließlich mit „schlappen 150 Jahren Verspätung“ dorthin begeben. Seinerseits hielt er für die Katholiken in der Landeshauptstadt, wo er von 2006 bis 2010 Stadtdekan war, noch eine kleine Erinnerung zum Schmunzeln bereit. Er wisse sehr wohl, dass er damals zum Amtsantritt als „Terminator aus Limburg“ gefürchtet worden sei, der die „schöne, liberale Stadtkirche kaputt machen will“. Stattdessen aber habe er sich auf die Leute vor Ort einlassen können, ohne Angst, etwas zu verlieren. Wie man Ängste als Amtsträger abbauen kann? „Durch Liebe“, lautete seine entwaffnende Antwort. In Wiesbaden und anschließend in Frankfurt sei er „gesund geliebt worden“.