Öffentlich das Unrecht Unrecht nennen und die Lüge Lüge
„Christiane Florin spricht Klartext. […] Es ist eine Zumutung. Allerdings eine heilsame und eine, die bestens verständlich daherkommt.“ Das sagte die Theologin Julia Knop, Professorin für Dogmatik an der Universität Erfurt, in ihrer Laudatio zum Walter-Dirks-Preis 2023. Dass Dr. Christiane Florin den Walter-Dirks-Preis erhalte, sei großartig, bemerkte Knop: „Es ist eine wohl verdiente Auszeichnung für Christiane Florin und ein starkes Signal für engagierten und sorgfältigen Journalismus im Dienst von Wahrheit und Gerechtigkeit in Kirche und Gesellschaft.“ Unten kann die Laudatio in ganzer Länge nachgelesen werden.
Florin erhielt den Preis, der alle zwei Jahre im Gedenken an den bedeutenden Journalisten und Publizisten Walter Dirks (1901-1991) vom Haus am Dom und dem Haus der Volksarbeit vergeben wird, weil sie laut Jury-Begründung „wie Walter Dirks für Geschlechtergerechtigkeit und weltweite Gerechtigkeit, insbesondere in Fragen der sexuellen Gewalt in der Kirche, eintritt und wie er Identifikationsfigur kritischer Gruppierungen im deutschen Katholizismus ist.“
Humor, der nicht resigniert
Julia Wilke-Henrich, Prof. Joachim Valentin und Jury-Vorsitzender Dr. Hejo Manderscheid übergaben den Preis, der traditionell die Form eines irdenen Hahns hat und mit 2500 Euro dotiert ist, am Samstagabend im Rahmen eines feierlichen Gottesdienstes mit Gesang, Orgel- und Saxofonmusik im Bartholomäusdom. Zuvor war am Nachmittag im Haus am Dom über Frauenrechte in der Kirche diskutiert worden. Katholische Frauenorganisationen nutzten die Preisvergabe, um mit Transparenten auf ihr Anliegen hinzuweisen: darauf, dass Frauen in der katholischen Kirche noch immer nicht die gleichen Rechte haben wie Männer, und primär dienen sollen. Ein Anliegen, das Christiane Florin teilt und natürlich klar benennt, mit der ihr eigenen Prise Humor und persönlichem Bezug, die man von ihr bei harten Themen gewohnt ist: „Die Mutter meiner Mutter war Mädchen für alles, in einem Kloster-Internat für höhere Töchter. Sie musste für die weiblichen Herrschaften den Boden fegen, Betten machen, Nachtöpfe auskippen. Als gute Katholikin sollte sie ihren niederen Dienst demütig lächelnd tun, das war der Platz für ein einfaches Mädchen vom Land Anfang des 20. Jahrhunderts. Höre ich heute von Kirchenmännern: ,Alle Macht ist Dienst‘, glaube ich ihnen schon deshalb nicht, weil man hochwürdigste Herren so selten bodenfegend und nachttopf-leerend sieht“, so Florin in ihrer Preisrede, die unten in ganzer Länge zu finden ist.
Florin, die sich selbst als „Arbeiterin, ach was: Proletin der Wirklichkeit“ bezeichnete und Walter Dirks‘ Buchtitel „Sagen, was ist“ als „knappste, treffendste und schönste Beschreibung von Journalismus“ kennzeichnete, sagte mit Blick auf die erschütternden Missbrauchsfälle, sie frage sich, ob sie am Anfang ihrer journalistischen Auseinandersetzung mit Religion naiv gewesen sei. „Ich habe vor zehn Jahren noch nicht damit gerecht, in Interviews mit Kirchenmännern angelogen zu werden und es nicht zu merken, weil da kein Zittern in der Stimme ist. Keine verdrehten Hände, wenn die Wahrheit verdreht wird. Bedauerliche Einzelfälle, nichts geahnt, nichts gewusst – nicht befasst. Den Rest regelt der Anwalt. Jesus war Jurist“, sagte sie. „Fehler“ hätten einige Bischöfe eingestanden – und doch immer anderen die Schuld gegeben: Dem System. Dem Klerikalismus. Den Medien. Niemand habe gesagt: „Mir waren die Kinder, die Jugendlichen, die Familien nicht so wichtig. Mir war die eigene Karriere wichtiger oder die eines klerikalen Bruders wichtiger als der Schutz der Schwachen.“ Und niemand habe je öffentlich eingestanden, schlicht und einfach gelogen zu haben.
Lebenswichtig für die Opfer von Unrecht und Diskriminierung
Missstände deutlich zu benennen, eben zu sagen, was ist, begreift sie als Anspruch an ihren Beruf: „Als Journalistin bin ich nicht Anwältin der Opfer, ich bin Anwältin der Wirklichkeit. Öffentlich das Unrecht Unrecht nennen und die Lüge Lüge - das ist lebenswichtig für die Opfer von Unrecht und Diskriminierung.“
Kirchendezernent Bastian Bergerhoff begrüßte die Anwesenden im Dom im Namen der Stadt Frankfurt und nannte Florin eine „sehr würdige Preisträgerin“: „Zwischen ihr und Walter Dirks lassen sich viele Parallelen finden: Beide sagen, was ist, beide stehen für Rechte der Frauen ein, aus dem Glauben an Gleichberechtigung heraus, und beide stehen auch für Kritik an kirchlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen“, sagte Bergerhoff. Kritik und Streit seien in einer Demokratie unbedingt notwendig, damit Probleme nicht nur benannt würden, sondern auch behoben werden könnten.
Sagen, was ist – das tut Christiane Florin und macht sich damit nicht immer nur Freunde. Entsprechend ist in der Jury-Begründung von einer „streitbaren Christin“ die Rede, „die über viele Jahre kreativ, investigativ, mit Humor und Ironie und viel Herzensengagement für Frauenrechte in der Kirche stritt, schrieb und schreibt; die in ihrer journalistischen Arbeit immer kirchenkritisch wie kirchenloyal für Christenrechte in Kirche und Gesellschaft agierte und textet.“ Christiane Florin sei eine scharfe Kritikerin der kirchlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Scharfsinnig in ihrem Urteil, unabhängig und der Wahrheit verpflichtet in der Analyse, gehöre sie zu den mutigen Publizistinnen unserer Tage, eine kleine Prophetin dieser Zeit. In Folge des Missbrauchsskandals sei sie als kritische Aufklärerin eine zentrale und wichtige öffentliche Person, die nötige Reformen in der katholischen Kirche anmahne. Die Dirks-Jury ehre eine Frau und Christin, die seit Jahrzehnten mit Spirit und Verve und einem gutem Journalismus für die römisch-katholischen Machtverhältnisse und die Opfer dieser Machtverhältnisse sensibilisiere.
Die untenstehenden Reden erschienen zuerst auf www.feinschwarz.net:
Laudatio auf Christiane Florin (Julia Knop)
Klartext
Dass Christiane Florin, diese (wie es in der Begründung der Jury heißt) „streitbare Christin“, „mutige[.] Publizistin[.]“ und „kritische Aufklärerin“ kirchlicher Machtverhältnisse, heute den Walter-Dirks-Preis erhält, ist großartig. Es ist eine wohl verdiente Auszeichnung für Christiane Florin und ein starkes Sig- nal für engagierten und sorgfältigen Journalismus im Dienst von Wahrheit und Gerechtigkeit in Kirche und Gesellschaft.
Christiane Florin ist in der katholischen Welt wohlbekannt. Bekannt dafür, Klartext zu sprechen. Denn
„das Bemühen um Gerechtigkeit zeigt sich unter anderem darin, dem Geschehenen sprachlich und gedanklich gerecht zu werden“ (Trotzdem, 2020, 74).
Für die Redakteurin im Ressort Religion und Gesellschaft beim Deutschlandfunkt ist die römisch-ka- tholische Kirche eines ihrer Hauptsujets. Ihr Fokus: Macht. Dazu gibt es in der Kirche ja viel zu sagen. Christiane Florin hat das früher getan als die meisten anderen.
Sie hat das M-Wort ausgesprochen, als das in der römisch-katholischen Kirche noch völlig tabu war – hierzulande also ungefähr bis vor drei Jahren; jenseits der Alpen und des Rheins ist es immer noch unsäglich.
Sie hat über Klerikalismus gesprochen, lange bevor dieses hässliche Wort aus eines Papstes Munde kam und nun, top-down, auch von anderen sagbar wurde – nicht als Systemfehler, versteht sich, sondern zur Gewissenserforschung guter Hirten, die sich leider Gotes manchmal schlecht verhalten.
Sie hat Rücktrite gefordert, lange bevor das Wort „Lernkurve“ in Mode kam, das sich jetzt als so ungeheuer nützlich erweist. Denn Rücktrite sind bei Lernkurven kontraproduktiv. Die Lernkurve betont Verantwortung und Zuständigkeit des Amtsinhabers – um den Preis allerdings, dass kirchliche Verbrechen Lernanlässe für kirchliche Führungskräfte werden.
Christiane Florin hat auch die katholische Verbindung von Idealisierung und Verachtung der Frauen
„Diskriminierung“ genannt, lange bevor Katholikinnen und Theologinnen das überhaupt zu denken wagten. Den Frauen, besser gesagt: den Weibern, widmet sie „knallharte Recherchen“ (ebd., 138). Da Interviews mit Kirchenmännern dazu wenig ergiebig sind, schreibt sie selbst darüber. Und liest, vor vollen Häusern. Über den obersten Hirten in Rom, der über den Genius der Frau sinniert, und den Se- minaristen in Zaitzkofen, mit dem sie über die Frauenordination und er über Goldfische sprach. Sie spricht Klartext in der schlimmsten aller Fragen: der „Frauenfrage“. Sie bezeichnet Kirchenmänner, die definieren, was Kirchenfrauen sind und dürfen, als „Platzanweiser im Schöpfungsplan“ (Weiberauf- stand, 2020, 66), und spotet: „Wenn Frauen sich an der Basis breitmachen, dann bleibt Männern nur die Spitze. Hierarchie wird Therapie“ (ebd., 16). Die Geschichte des römisch-katholischen Nein zur Frauenordination, das immer stärker bewehrt wird, fasst sie lapidar so zusammen: „Frauen waren zu- erst zu dumm, dann zu schwach und schließlich zu fein für das Priesteramt. Jetzt sind sie zu gefährlich für die Weltkirche“. „Der Ausschluss hält die Weltkirche zusammen, … Exklusion ist ein Wesensmerkmal (ebd., 92). Das ist natürlich frech – aber ich kann nicht widersprechen.
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Christiane Florin greift die lästigen Themen auf, lästig v. a. für die Mächtigen in dieser Kirche, die am- tierenden Bischöfe, die öffentlich viel lieber anders aussähen. Als gute Bischöfe, die im Unterschied zu ihren Vorgängern auf der richtigen Seite stehen. An der Seite der Opfer. Und für rückhaltlose Aufklä- rung. Die sich gerade jetzt, in der Krise, nicht aus der Verantwortung stehlen. Die es hier und heute besser machen wollen. Und dafür um Vertrauen werben. Die im Übrigen, auch wenn das nicht immer so durchkommt, Frauen ganz wunderbar finden, mehr noch: die Frauen sys-te-ma-tisch fördern. Aber jetzt natürlich nicht die kirchliche Hierarchie auf den Kopf stellen können. Das liegt nicht in ihrer Macht. Und überhaupt: Denken Sie an die Weltkirche!
Christiane Florin nervt trotzdem weiter. Das „Danke, Danke, Danke“ an die Frauenversteher in weiß, rot und violet kommt ihr, wenn sie journalistisch unterwegs ist, zwar nicht über die Lippen – publizis- tisch aber ganz locker-ironisch durch die Tastatur. Aus dem Weiberaufstand, viel gelesen, wenn auch kaum geprobt, ist ein fulminanter Blog erwachsen – ein wunderbares Therapeutikum für geschundene katholische Seelen, grimmig und gewaltig. Lesen hilft!
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Christiane Florins Job ist es, kritisch auf „Religion und Gesellschaft“, also auch auf die römisch-katholi- sche Kirche in einer demokratischen Gesellschaft, zu schauen. Das ist nicht nur Profession, sondern auch Begabung, ihr Charisma, würde man auf katholisch sagen, Beruf also und Berufung. Klartext zu sprechen ist die Macht der Journalist:innen und Publizist:innen. In demokratischen Gesellschaften sind sie die vierte, in der Kirche – mangels Gewaltenteilung – die zweite Macht.
Kein Wunder, dass ihre Berichterstatung, ihre Recherchen, Interviews und Kommentare über die Kir- che in der Kirche nicht von allen geschätzt, von manchen gefürchtet und diskreditiert werden. Sie ar- beite sich ab, heißt es dann mitleidig-psychologisierend, oder: „Die hat eine Agenda!“ Sie arbeitet sich nicht ab, sie arbeitet, erwidert sie darauf. Denn das machen Journalist:innen so. Sie hat keine Agenda, aber sie ergreift Position. Wo es um Macht und Ohnmacht, Ermächtigung und Erniedrigung geht, steht investigativem Journalismus ein advokatorische Moment gut an.
Wie wichtig solcher Journalismus für die Aufdeckung, Analyse und Bewertung von Missbrauch von Macht durch Mächtige der Kirche ist, erleben wir wieder und wieder. Dass manche Namen, die schon vor Jahren in Recherchen kluger Journalist:innen wie Christiane Florin auftauchten, im Laufe der Zeit dem Gedächtnis wichtiger Kirchenmänner wieder entgliten und erst wieder aus dem Dunkel des Ver- gessens ins Licht der Öffentlichkeit gehoben werden, wenn sie in Unabhängigen (mit großem U!) Gut- achten stehen – geschenkt. Kein Bischof kann ja alles lesen und behalten, was man ihm so vorlegt und was er unterschreibt.
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Als Politologin hat Christiane Florin ein professionelles Interesse und zugleich ein entspanntes Ver- hältnis zu Machtverhältnissen, die, wie könnte es anders sein, auch in der katholischen Kirche eine Rolle spielen. Eine umso größere und gefährlichere, je weiter man(n) das von sich weist. Die Politolo- gin schaut nüchtern auf das, was ist, und weigert sich zu akzeptieren, dass es angeblich ganz anders ist, nämlich nicht Macht und Herrlichkeit, sondern Dienst und Demut.
Dass sie, wie sie gelegentlich faustisch bedauert, „ach, nicht Theologie studiert“ hat, kommt ihr (ich sage es ungern) dabei zugute. Denn sie musste den Pastoralsprech des Dienens und der Betroffenheit nicht erst verlernen. Sie hat ihn sich nie professionell angewöhnt. Sie wusste immer schon, dass es in der katholischen Kirche Macht gibt, viel Macht sogar, Vollmacht, Macht in Fülle, wenn auch stets im Dienste des Herrn und zum Heil der Seelen. Sie wusste auch schon länger als viele andere: Je beredter das Schweigen über Macht, desto wirksamer und gefährlicher das Verschwiegene, und je offensiver die Beschwörung, Augenhöhe etwa, desto ferner liegt das Beschworene.
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Christiane Florin ist Politologin und Journalistin – und katholische Mutersprachlerin. Eine perfektes Topping: Professionell kritisch und fachlich versiert, das ist wie Mürbeteig und Sahne. Und obenauf, gleichsam eine Erdbeere, die Katholizität des Weibes. Sie kennt den Laden von innen. Sie weiß, wo- von sie redet. Und mit wem.
Ihre Fragen sind gut, scharfkantig und präzise, zielgenau und immer bestens vorbereitet. Das kann man von den Antworten nicht immer sagen. Der verdutzte Einsilber, den sie am 24.9.2018 von Kardi- nal Marx bekam, ist legendär. Sie erinnern sich: Das war die Pressekonferenz nach der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz, in der die MHG-Studie präsentiert worden war. Christiane Florin wollte vom damaligen Vorsitzenden wissen, ob denn angesichts dieser Ergebnisse keiner der knapp 70 Kollegen, teils Jahrzehnte lang im Dienst, über Rücktrit nachgedacht habe. In der wirkli- chen Welt ist das eine überaus naheliegende Frage – doch sie hat die Herren kalt erwischt. Der Kardi- nal, eigentlich einer von der unerschrockenen, verblüffungsresistenten Sorte, brachte nur ein über- raschtes „Nein“ heraus (mit hörbarem Fragezeichen: Wieso um Himmels Willen Rücktrit?) – und dann war die Pressekonferenz zu ende. Die Antworten lassen also bisweilen zu wünschen übrig. Aber ihre Fragen haben es in sich.
In sich haben es auch Christiane Florins Wortschöpfungen. Sie sind alle um ein Vielfaches länger als der Marx‘sche Einsilber: z. B. „Bescheidenheitsbrutalität“ (ebd., 86), „Erschüterungserschüterung“ (ebd., 64) oder, die mutmaßlich vorerst längste: „Diakoninnenmöglichkeitsprüfungsprüfungskommis- sion“ (htps://www.weiberaufstand.com/post/frauen-sind-wild-und-gef%C3%A4hrlich). Biter-ernst genommen verpuffen die Wortwolken in Windeseile, die minimalen Handlungswillen hinter maxima- ler Verständnissuggestion (vgl. ebd., 57) verbergen.
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Christiane Florin spricht Klartext. Gegenüber Bischöfen – und gegenüber den so genannten „Laien“. Sogar gegenüber den Laiinnen, den Mitweibern. Das macht sie doppelt unbequem. Es ist eine Zumu- tung. Allerdings eine heilsame und eine, die bestens verständlich daherkommt. Sie kann nämlich nicht nur nüchterne Analyse und scharfsinnige, präzise Kommentare. Sie kann auch den „Erklärbär-Tonfall des Kinderfernsehens“ (ebd., 8). In diesem Tonfall erklärt sie uns die Sonderwelt römisch-katholische Kirche. Ihre, unsere Welt. Elementarisierung hilft dabei.
Denn eigentlich ist es ganz simpel, nämlich so: In der katholischen Kirche gibt es zwei Spezies, Hirten und Schafe. Normalerweise bleiben Schafe Schafe. Einige wenige, männliche, berufene, mutieren zu Hirten. Sie waren mal Teil der Herde, stehen ihr aber jetzt gegenüber. Die Wandlung vom Schaf zum Ex-Schaf geschieht in dem Moment, in dem „ein hoher Hirte einem werdenden Hirten die Hand auf- legt“ (ebd., 7). Danach ist alles anders. Dieser Unterschied zwischen Schafen und Ex-Schafen ist we- sentlich, sagen die Hirten. Der Wechsel in die Führungsebene ist kein bloßer Rollenwechsel, Hirten sind keine Leithammel. Sie haben einen regelrechten Gatungssprung hinter sich. Sie haben den Zaun übersprungen, hinter dem sie früher ästen. Aus Vierbeinern wurden Zweibeiner, aus Herdentieren Führungskräfte. Wem das ontologische Upgrade vom Schaf zum Hirten theoretisch nur schwer zu- gänglich ist (und das ist dogmatisch ja wirklich ambitioniert), dem stellt es die Weihe eindrücklich vor Augen: „Der ist keiner mehr von euch, der passt jetzt auf euch auf“ (ebd., 7f).
„Hirten wissen durch die Weihe immer, was gut ist für die Herde“ (ebd., 8). Authentische Interpreta- tion nennt man das dogmatisch, wobei authentisch nicht glaubwürdig oder wahrhaftig bedeutet, son- dern richtig, wahr und gut. Hirten interpretieren authentisch Bibel und Tradition, Liturgie und Gesetz, Schöpfungs- und Erlösungsordnung. Und sich selbst. Schafe tun das nicht. Die römisch-katholische Kirche ist die einzige, die ihre Deutungsmacht und Leitungsgewalt dogmatisiert hat, also Widerspruch und Reform strukturell ausgeschlossen hat. Das war am 18.7.1870, als die Oberhirten, übrigens per Mehrheitsbeschluss, den Primat des obersten Hirten in Lehre und Leitung zum Glaubensgut erhoben haben. Eine solche Definition schließt Diskurs ab, nicht auf. Noch eine Spule Draht mehr im Zaun, bildlich gesagt. „Manche Schafe denken trotzdem, sie wüssten es selbst besser [als die Hirten] und blöken. Das stört die Hirten. Manche nicken milde [lass sie spielen], manche lassen den Hund von der Leine“ (ebd., 8).
Das Wort „Hirtensorge“ macht gut, was in der Realität mindestens ambig ist. Das Machtgefälle zwi- schen Hirt und Herde wird zur Obhut, pastorale Leitung wird zur Care-Arbeit. Dass kein Hirte, sondern ein Mietling oder Räuber an der Spitze der Herde stehen könnte, ist nicht vorgesehen. Dass vielleicht das Bild als Ganzes schief ist, auch nicht.
Der biter-süße Erklärbär-Tonfall von Christiane Florin ist bestechend klar. Als Lach- und Sachge- schichte klingt das natürlich nicht so heilig wie gewohnt, aber es triffl die soziale Realität kirchlicher Machtverhältnisse sehr genau. Es ist auch keine Persiflage, sondern konsequente Aufnahme und Wei- terführung des Hirtensprechs. Ohne metaphorische Brechung, die in der Bibel die Regel, in Kirche aber auch die Ausnahme ist. Christiane Florin sagt nicht: Mit der Kirche ist es wie …, sondern: In der Kirche ist es so!
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Von Hirten ist in der Kirche häufig die Rede. Von Schafen kaum. Erst recht nicht ohne metaphorische Brechung. Vermutlich, weil dann wirklich jede:r merkt, wie schräg die pastorale Szenerie in urbanen säkularen Welten ist. Und weil die Identifikationsmöglichkeiten so ungleich verteilt sind. Hirt zu sein ist atraktiv. „Guter Hirt“ erst recht. Das klingt so biblisch. Und so sehr nach Jesus.
Aber ein Schaf? Das will doch kein Mensch. Und welches Schaf überhaupt? Eines mit links- oder mit rechtsgebürstetem Fell? Ein zickiges oder ein bockiges? Ein fetes oder ein mageres? Kein Mensch will ein dummes und treudoofes Schaf sein, nicht einmal beim Krippenspiel. Keines, dem das Fell über die Ohren gezogen wird. Auch kein verlorenes oder schwarzes Schaf, nicht einmal dann, wenn es am Ende des Stücks vom guten Hirten wiedergefunden wird. Dickfellig sind ohnehin nicht mehr viele.
Und manche katholische Schafe, die ihr Leben lang tapfer gemeckert haben, sind still geworden. Oder durch den Zaun gebrochen. „Ständiges Dagegenblöken macht heiser – und einsam“ (ebd., 71). Die Haut ist dünner geworden, das Fell auch. Der Stall ist eng und muffig geworden. Und die Herde wärmt nicht mehr. Der Makraméefaden reißt.
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Christiane Florin hat ein Herz für katholische Schafe. Nicht aus maternalistischer Hirtinnensorge her- aus, eher als Mitschaf. Denn katholisch sozialisiert, besser und in ihren Worten gesagt: katholisch kon- ditioniert ist sie auch. Sie kennt die vielen Möglichkeiten, wie Katholik:innen sich ihre Kirche schönre- den. Die kennen wir alle. Die heilen Welten und wohligen Nischen in der Jugend- und Verbandsarbeit, die nüchterne Resignation und den Pragmatismus erwachsener Katholik:innen, die innere Emigration der Hauptamtlichen. Sie kennt das tapfere Aber-die-Kirche-tut-doch-auch-viel-Gutes und das eigen- sinnige Verändern-kann-ich-nur-von-innen. Sie kennt diese störrische Anhänglichkeit an die heilige
Muter Kirche, die das Fass des Erträglichen einfach nicht überlaufen lassen kann. Sie kennt den Hoff- nungstrotz um jeden Preis, der hilft, die rote Linie immer weiter zu verschieben, um sie nicht über- schreiten zu müssen. Letztes Jahr hat sie sie doch überschriten. Dafür gebührt ihr Respekt.
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Christiane Florin hat ein Herz für Schafe, aber sie streichelt sie nicht. Es ist auch ihr Verdienst, wenn Katholik:innen als einzelne und in Verbänden endlich anfangen, Versagen, Verbrechen und Verant- wortung nicht mehr nach oben wegzudelegieren. Zwischen Tätern und Betroffenen, Vertuschern und Bystandern stehen eine ganze Menge frommer Leut‘. Da ist keine:r außen vor.
Denn einmal Schaf, immer Schaf, bedeutet auch: Die Herdenmentalität wirkt weiter. Bis hin zur Kom- plizenschaft. Es ist natürlich schwierig zu ermessen, wie viel die katholische Konditionierung dazu bei- getragen hat, dass Missbrauchsverbrechen geschehen, aber nicht gesehen, nicht benannt und nicht beklagt wurden. Wenig ist es sicher nicht. Denn es sind ja nicht nur Bischöfe, die immer noch viel lie- ber von Dienst sprechen als von Macht. Die meinen, dass es doch endlich einmal gut sein muss mit diesen Themen. Es sind nicht nur Hirten, die täuschen und sich täuschen lassen. Die glauben machen und selbst glauben wollen, dass dieser schlimme, ja: „abscheuliche!“ Missbrauch kein katholisches Problem sei. Die um ihre katholische Heimat bangen und kämpfen, in der um Gotes willen alles gut (gewesen) sein muss. Es sind nicht nur Kirchenmänner, die davon ausgehen, dass Aufklärung, Aufar- beitung und Wiedergutmachung am besten in kirchlichen Händen aufgehoben ist. Dass der Staat sich da raushalten sollte, so, „als seien Missbrauchsbetroffene keine Staatsbürger“ (htps://www.deutsch- landfunk.de/kommentar-zur-causa-zollitsch-und-dem-versagen-der-politik-dlf-28e09625-100.html). Schafsgeduldig und vertrauensselig, gutgläubig ignorant und fantasielos in den Abgründen des Bösen
– wer von uns kann sich davon freisprechen?
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Christianes Texte sind in der Tat oft eine Zumutung. Aber sie schimpft nicht von der Seitenlinie. Sie übt „Anklage und Selbstanklage“ (Trotzdem, 2020, 17), Aufklärung und Selbstaufklärung, erstere in ihrer Rolle als Politologin und Journalistin, letztere als Autorin und Bloggerin.
Authentisch dabei – diesmal im normalen Sinne: echt, lebendig und wahrhaftig – finde ich, wie viel O- Ton in ihren Blogs und Bücher steckt. Wie nüchtern sie ihre eigene Entwicklung (vulgo: ihre Lern- kurve) erzählt: „Ich war nicht kritisch genug, der Kirche meiner Jugend so viel kriminelle Energie zuzu- trauen“ (ebd., 17). „Ich bin spät wach geworden“ (ebd., 72). „Ich wurde hellhöriger“ (ebd., 168). Und, der letzte Satz in „Trotzdem“: „Ich laufe bleibend davon“ (ebd., 173).
Ich kann diese Schrite, dieses allmähliche Aufwachen und Aufmerken, gut nachempfinden. Es sind mühsame, entlarvende, beschämende Schrite. Einmal gegangen, gibt es kein Zurück. Christiane Flo- rin war mir dabei Jahre voraus – und dadurch oft Patin, ohne es zu wissen. Umso mehr freut es mich, dass ich ihr heute im Rahmen dieser Preisverleihung im Namen vieler dafür danken darf.
Von Schaf zu Schaf steht mir kein Hirtengruß zu Gebote. Deshalb sage ich jetzt nicht: „Gotes Segen für Ihren wertvollen Dienst, in Christo verbunden“, sondern einfach: Danke, Christiane Florin, und lila Glückwunsche zum Walter-Dirks-Preis 2023! Bleib wild und gefährlich!
Zitate aus: Christiane Florin,
- Der Weiberaufstand. Warum Frauen in der katholischen Kirche mehr Macht brauchen, München 2017.
- Trotzdem! Wie ich versuche, katholische zu bleiben, München 2020.
- Frauen! Sind! Wild! Und! Gefährlich!, in: dies., htps://www.weiberaufstand.com/blog-1
Preisrede von Dr. Christiane Florin
Lassen Sie mich nicht lügen! Proletin und Prophetin.
Das ist mein dritter Preis, komischerweise habe ich bisher ausschließlich Auszeichnungen gewonnen, die nach Personen benannt sind. 2001 Ernst Robert Curtius, 2019 Maria Grönefeld, nun Walter Dirks. Ein Essayist, eine Feministin, ein Sozialist. Ein Mann, eine Frau, ein Mann …
Marion Gräfin Dönhoff, Grande Dame der Wochenzeitung „Die ZEIT“, hat vor Lob gewarnt. Ein Journalist sei nicht dazu da, „ein Rad zu schlagen wie ein Pfau und zu rufen: ,Seht her, habe ich das nicht schön gemacht?‘“ Ob Pfauenweibchen mitgemeint sind, lässt die Gräfin offen. Die prächtigen Federn zum Rad schlagen, haben jedenfalls nur Männchen.
Um als Pfauenfrau nicht in die katholische Bescheidenheitsfalle zu tappen: Ich könnte mich an Lobreden gewöhnen und erst recht an solche Lobrednerinnen wie Julia Knop! Lob kann süchtig machen, abhängig. Ich bin so frei zu sagen: Trotz des Dirks-Preises wird aus mir keine christliche Sozialistin oder sozialistische Christin. Journalistin muss reichen.
Gräfin Dönhoff soll auch gesagt haben, in ihrer Zeitung wolle sie keinen Artikel über Frisuren lesen, guter Journalismus befasse sich nicht mit Haaren. Zum Curtius-Preis habe ich über das Thema „Haare lügen nicht“ gesprochen. 2001 war die Zeit, als beim damaligen FC-Trainer Christoph Daum Kokainspuren im Haar festgestellt worden waren und als die Haarfarbe des Bundeskanzlers Gegenstand zunächst von Berichten und dann von höchstrichterlichen Entscheidungen war.
Jetzt, 20 Jahre seriöser, lasse ich die Haare weg und rede gleich übers Lügen. Und das hat mit Walter Dirks zu tun.
Eines der wenigen wissenschaftlichen Bücher über Walter Dirks heißt „Sagen, was ist“. Dieser Satz wird meistens dem „Spiegel“-Gründer Rudolf Augstein zugeschrieben, im Spiegel-Verlagshaus in Hamburg ist er verewigt. Der Satz gehört aber auch Walter Dirks. Es ist die knappste, treffendste, schönste Beschreibung von Journalismus. Sich beobachtend, recherchierend, fragend, hörend, schreibend, sprechend, der Wirklichkeit annähern. Der Wirklichkeit gerecht werden. Und den Menschen gerecht werden, die diese Wirklichkeit ausmachen.
Sagen, was ist. Bewusst vermeide ich „Wahrheit“. Das große Wort ist entwertet durch kirchliche Vertuscher, zu deren Ehren allen Ernstes Festschriften mit dem Titel: „Die Wahrheit wird euch freimachen“ herausgegeben wurde. Entwertet durch höchstrangige Ich-War’s-Nicht-und-ich-wusste-nichts-Sager, die sich laut Bischofswappen als „Mitarbeiter der Wahrheit“ sehen. Dann bin ich lieber Arbeiterin, ach was: Proletin der Wirklichkeit.
Wo Sie gerade sagen: Sozialismus.
Ich entstamme dem rheinischen Arbeiteradel in 50. Generation. Bin die erste in der Familie, die Abitur gemacht, studiert und promoviert hat. Je älter ich werde, desto mehr glaube ich, dass die soziale Herkunft prägt. Aus einem, wie Annie Ernaux es nennt, beherrschten Milieu zu kommen, macht sensibel für Machtverhältnisse, weltlich wie kirchlich.
Die Mutter meiner Mutter war Mädchen für alles, in einem Kloster-Internat für höhere Töchter. Sie musste für die weiblichen Herrschaften den Boden fegen, Betten machen, Nachtöpfe auskippen. Als gute Katholikin sollte sie ihren niederen Dienst demütig lächelnd tun, das war der Platz für ein einfaches Mädchen vom Land Anfang des 20. Jahrhunderts. Höre ich heute von Kirchenmännern: „Alle Macht ist Dienst“, glaube ich ihnen schon deshalb nicht, weil man hochwürdigste Herren so selten bodenfegend und nachttopf-leerend sieht.
Das Klassenklischee will es, dass das Proletariat keine Zeit hat für wolkige Worte. Wer die Hände an der Kittelschürze abwischt, redet real und reell, offen und ehrlich. Sagt, was ist.
Schön wär’s! In der Wohnküche meiner Oma habe ich – wie mir mit dem Abstand vieler Jahre bewusst wird, - einiges über die Eleganz des gut katholischen Lügens gelernt. Eine unschätzbar wertvolle Erfahrung aus der kleinen Welt für die größere Bühne.
Und das kam so: Meine Mutter war berufstätig. Nach der Schule ging ich zu meiner Oma, aß dort zu Mittag und machte meine Hausaufgaben. Nachmittags kamen die Freundinnen meiner Oma und bestaunten, was man auf dem Gymnasium so alles lernt (Englisch, Latein). Die Frauen waren mindestens 70, meistens kamen sie vom Arzt. Im Rheinischen gibt es für diese Tätigkeit ein Verb: „doktern“. (Konjugation: Ich gehe doktern, du gehst doktern, gern im Pluralis Majestatis: Wir gehen doktern).
Die Freundinnen meiner Oma waren fromme Frauen, Marienverehrerinnen. Ein Arztbesuch war auch eine Art Wallfahrt. Eine ging immer nach dem Arztbesuch in die Drogerie oder Apotheke. Was sie genau kaufte, wussten wir nicht. Die Tasche hielt sie festverschlossen, mutmaßlich wollte sie im Wettbewerb der Wundermittel vorn liegen. Bei der Gesundheit hören Freundschaft und Nächstenliebe auf, habe ich damals gelernt.
In der Küche ging ein anderer Wettbewerb los: Die Vitalwerte wurden verglichen. „Ich habe den Zucker auf 200!“ (Es hieß nie: Diabetes, immer Zucker). „Ich auf 220!“. Die dritte schwieg lange, schaute in die Runde und sagte dann: „Drei-Hun-Dert“. Stille. Andacht. Aber nur kurz. Der Blutdruck kam dran. Ein oberer Wert – das Wort Systole war unbekannt - von 160 provozierte nur ein mildes Lächeln, garantiert hatte eine andere 190 zu bieten. Auch dieser Rekord hielt nicht lange: „160, dat ist bei mir der untere Wert!“, sagte die dritte. Ehrfurcht, wieder Stille. Dann eine jute Tasse Kaffee.
Die Frauen sagten, was ist. Könnte man meinen. Aber: Jedem objektiven Messwert ging eine Aufforderung voraus, deren berufsbildende Relevanz sich mir erst später erschlossen hat: „Loss mich net leje“. Hochdeutsch: Lass mich nicht lügen. Dann kam der Messwert.
Der geniale Kabarettist und Psychologe Konrad Beikircher lässt sich diesen Satz auf der Zunge zergehen. Er analysiert: „Eine Redensart, die sogar die Möglichkeit der eigenen Wahrheitsverdrehung prophylaktisch dem anderen aufs Auge drückt. Nach dem Motto: ich hätte ja nicht, aber der da…“
Lass mich nicht lügen! Wenn ich die katholische Kirche als Verantwortungsverdunstungsbetrieb bezeichne, dann wissen Sie, wo das herkommt: aus dem Küchendunst der Kindheit. Schwestern im Dunst. Was bei den Ohnmächtigen damals rheinische Folklore war, ist bei den Mächtigen gefährlich.
Seit 13 Jahre befasse ich mich journalistisch mit Religion. Walter Dirks hat sich als über 80Jähriger gefragt: „War ich ein linker Spinner?“
Ich frage mich: War ich naiv, als ich mich für kritisch hielt? Ich habe vor zehn Jahren noch nicht damit gerecht, in Interviews mit Kirchenmännern angelogen zu werden und es nicht zu merken, weil da kein Zittern in der Stimme ist. Keine verdrehten Hände, wenn die Wahrheit verdreht wird. Bedauerliche Einzelfälle, nichts geahnt, nichts gewusst – nicht befasst. Den Rest regelt der Anwalt. Jesus war Jurist.
„Fehler“ haben einige Bischöfe eingestanden. Aber noch immer drücken sie die Wahrheitsverdrehung prophylaktisch oder hinterher einem anderen aufs Auge. Dem System. Dem Klerikalismus. Den Medien.
Niemand hat gesagt: „Mir waren die Kinder, die Jugendlichen, die Familien nicht so wichtig. Mir war die eigene Karriere wichtiger oder die eines klerikalen Bruders wichtiger als der Schutz der Schwachen. Mir war es zu unbequem, mich mit allen anzulegen.“ Solche Worte wären nah an der Wirklichkeit, das ergeben nicht nur meine investigativen Messungen klerikaler Vitalwerte. Aber sie sind zu schrecklich, um wirklich ausgesprochen zu werden. Dann doch lieber: „Ich wollte den Ruf der Kirche schützen.“ Das klingt wenigstens ein bisschen edelmütig.
Hat jemand gestanden: „Ich habe gelogen“? Ich wüsste nicht. Statt dessen: „Der Zeitgeist war ein anderer, wir wussten nicht, wie schlimm Missbrauch ist.“ Als wäre Wahrheitsverdrehung bloß ein Kommunikationsfehler. Das Wort Kommunikationsfehler selbst ist oft eine Lüge.
2018 habe ich auf der Pressekonferenz zur MHG-Studie gefragt, ob von den über 60 vollversammelten Bischöfen einer oder zwei von sich sagen würden, er habe so viel persönliche Schuld auf sich geladen, dass er das Amt nicht mehr tragen kann, antwortete der damalige Bischofskonferenz-Vorsitzende Reinhard Marx einsilbig: Nein. Danach gab’s viel Post. Kritik kam - für mich nicht überraschend - aus dem sogenannten Reformlager, dessen Darling Marx war. Es braucht nicht viel, um Kardinal auf liberal zu reimen. Die Frage sei übergriffig, simste mir ein Funktionär. Nach dem Motto: Nun lassen Sie den Kardinal doch nicht lügen! Lügen und lügen lassen – der Co-Klerikalismus ist recht vital.
Anders als das Sprichwort behauptet, haben Lügen keine kurzen Beine. Man kommt immer noch weit damit. Wäre es anders, würde es sich nicht lohnen, mit dem „nichts gewusst“, „nichts geahnt“ weiterzumachen, mit juristischen Haarspaltereien von „befasst sein“ und „befasst werden“, von „sehen, aber nicht lesen“, „unterschreiben, aber nicht zur Kenntnis nehmen“. Der Priester habe sich vor dem Kind nur entblößt, es aber nicht berührt, meinte Joseph Ratzinger differenzieren zu müssen.
Wir reden hier nicht über Haarfärbemittel, nicht über journalistische Pfauenfedern nach dem Motto: Wie können Sie es wagen, eine öffentlich-rechtliche Redakteurin zu belügen?!
Wir wüssten nichts, wenn nicht Betroffene sexualisierter und spiritueller Gewalt sich mutig an Medien gewandt hätten. Kein Kirchenmann, kein Bischof hat von sich aus gesagt, was ist. Erst haben sie bestritten, jetzt beschäftigten sie Gutachter, um zu erfahren, was sie selbst doch am besten wissen müssten. Aber Wissen ist nicht strafbar ist und für Moral gibt’s kein gutachterliches Messgerät. Mir geht der Blutdruck auf 180 – unterer Wert! – wenn sich amtierende Bischöfe von ihren Vorgängern distanzieren, als seien sie klerikale Quereinsteiger.
Wirklichkeit ist konkret. Nicht zu sagen, was ist, fügt Menschen konkretes Leid zu. Julia Sander vom Betroffenenbeirat Freiburg hat in einem Interview erklärt: „Ich weiß, was es bedeutet, zu wissen, wie etwas war. Das macht es nicht besser oder schlechter, aber dann kann ich es verarbeiten. Wenn eine Frage nicht aufgeklärt wird, dann kann ich es nicht verarbeiten.“
Bischöfliche Imagefilme säuseln: „Wir stehen an der Seite der Betroffenen“. Ich stehe da nicht. Ich glaube nicht der Erzählung dahinter, dem Narrativ: Wir sind auf einem guten Weg, jetzt sind die anderen dran, die Sportvereine, der Staat. Es gibt keinen Kulturwandel in der Kirche ohne Systemwandel, keine Gerechtigkeit ohne ein Durchbrechen der Machtachsen, wie es Doris die Theologin Doris Reisinger genannt hat. Und die Machtachsen stehen unverändert.
Als Journalistin bin ich nicht Anwältin der Opfer, Anwältin der Wirklichkeit. Öffentlich das Unrecht Unrecht nennen und die Lüge Lüge - das ist lebenswichtig für die Opfer von Unrecht und Diskriminierung. Das habe ich gelernt von den vielen, die keine Narrative haben, sondern eine Lebens- und Leidensgeschichte, die sie mir anvertraut haben. Die offen zu mir sprechen, ohne dass ich etwas versprechen kann. Ihnen gilt mein erster und größter Dank! Journalist*innen haben die Wahl, ob und wie intensiv sie sich mich mit dem Thema Missbrauch beschäftigen. Betroffene haben diese Wahl nicht.
Noch kurz vor Schluss ein Wort zum anderen schreienden Unrecht, dem, was ich das Frauendings nenne. Auch da wünsche ich mir, dass jene, die Nicht-Männern die Gleichberechtigung verweigern, das Lügen sein lassen. Sie sollen nicht immer Jesus, den Mann, vorschieben und seine männlichen Apostel, wenn sie eigentlich sagen wollen: „Mich stören die Weiber“.
Sie sollen nicht weichgespült-verständnisvoll daherreden, als gehe es um Ungerechtigkeitsempfindensminderung. Die lange Geschichte der kirchlichen Frauenverachtung, der Frauenfeindlichkeit, der Gewalt in Worten und Werken ist eine Tatsache, kein subjektives Gefühl.
Die alten Frauen in der Küche meiner Oma waren zutiefst eingeschüchtert von der katholischen Moral. Zornige alte Männer gab es damals schon, eine zornige alte Frau zu sein, galt als Sünde. Jene, die sie gefragt haben, wo nach Kind Nummer 6 Kind Nummer 7 bleibt, die sich als Lebensschützer gerieren, haben sich wie wir jetzt wissen für die Verbrechen an schon geborenen Kindern keinen Deut interessiert. Und geweihte Männer befinden bis heute, wie eine gute katholische Frau zu sein hat und welchen Platz sie einzunehmen hat, die Küche sieht bloß anders aus als damals.
Liebe Entscheider – das Wort muss ich nicht gendern: Lasst euch nicht lumpen: Wenn ihr damit aufhören wollt, dann hört damit auf! Wäre doch schön, wenn der Global Player römisch-katholische Kirche nicht auf der Seite der Global-Patriarchen und Diskriminierern stünde. Vom Evangelium her, wie ich es verstehe, spricht nichts dagegen. Nihil obstat.
Wo Sie gerade sagen verstehen:
Vor drei Jahren hat Christ&Welt in der ZEIT einen Auszug aus meinem Buch „Trotzdem“ gedruckt. Was vom Glauben übrig blieb, hieß das letzte Kapitel. Bei Wettbewerben um die spirituellste Strahlung und das brennendste Bekennen muss ich passen. Christentum ist für mich seit der Teestube der katholischen Landjugendbewegung Niederkassel-Mondorf essentiell mit dem Streben nach Gerechtigkeit, genauer: nach gerechten Verhältnissen verbunden. Und zwar hier auf Erden, nicht im Jenseits. Im Buch steht, dass Macht Kontrolle braucht, zeitliche Begrenzung und Legitimation von unten, nicht von oben. Wer oben ist, sollte Rechenschaft nach unten ablegen.
Ein Bischof ließ mich daraufhin wissen, dass er mir beinahe in einer Abwehrreaktion unterstellt hätte, vom Evangeliums fast nichts verstanden zu haben.
Meine Reaktion: Ein Bischof, der darüber befindet, wer etwas vom Evangelium verstanden hat und wer nicht? Das wüsste ich aber!
Mit 22 hätte ich mich das nicht getraut, mit 32 auch nicht, mit 52 schon. Ob Jesus ein Sozialist war? Ein Feminist? Ob er sich beim Weiberaufstand unterhaken würde? Ich bleibe skeptisch allen gegenüber, die behaupten, genau zu wissen, was dieser Jesus gewollt und gestiftet hat. An dieser Stelle ein besonderer Gruß an das von Jesus, ach was, von Gott höchstselbst gestiftete Erzbistum Köln. Die Post kam übrigens nicht von dort.
Und Sie machen mich nun durch diesen Preis von der Arbeiterin der Wirklichkeit, von der Proletin zur kleinen Prophetin. Über Walter Dirks hieß es in einer Deutschlandfunk-Sendung zum 100. Geburtstag, also 2001, nahezu jede seiner Prognosen zur Zukunft der jungen Bundesrepublik habe sich als falsch erwiesen.
Sollten Sie meine Dienste als Prophetin in Anspruch nehmen wollen, erkläre ich prophylaktisch: Lassen Sie mich nicht lügen! Wenn ich daneben liege, werde ich mich nicht daran erinnern, jemals etwas gesagt zu haben. Wenn ich recht behalte, dürfen Sie mich große Prophetin nennen.
Dank…
Ich danke Ihnen, dass Sie sich mitfreuen über Lob&Preis.
Allen, die sich nicht mit mir freuen, denen kann tröstend mitteilen, was ich im eingangs zitierten Buch über Walter Dirks gelesen habe. Da stand, Zitat: „Mit zunehmendem Alter verblasste umgekehrt proportional zu der steigenden Zahl der Ehrungen die Aufmerksamkeit für seine politischen Anstöße.“ Zitat Ende.
Liebe Rechtsgläubige: Noch drei Preise mehr und mir hört keiner mehr zu!