12.04.2016
Radikal und klar
FRANKFURT.- Ein Christkönig, der kein König ist, sondern wie ein Boxchampion daherkommt, der „Kommt in meine Arme“ zu rufen scheint, und ein so kraftvolles, starkes Bild des Gottessohnes widergibt, der den Tod überwand: Für Thomas Sternberg, den Präsidenten des Zentralkomitees der Katholiken, ist das Kunstwerk von Julius Bockelt ein elektrisierendes Beispiel für die großartige zeitgenössische Kunst, die seit Januar die aus dem frühen 13. Jahrhundert stammende Marienkirche in Aulhausen im Rheingau schmückt. Im vollbesetzten Zollamtssaal des Hauses am Dom eröffnete Sternberg am Dienstag, 12. April, die Ausstellung „Von der Unbegreiflichkeit Gottes“, die den Entstehungsprozess der künstlerischen Neugestaltung in eindrucksvollen Bildern, Texten und Videoinstallationen dokumentiert.
Geschaffen wurde die Kunst, die laut Sternberg ein „Gewinn für die Kirche in Deutschland“ ist, von Künstlern mit geistiger Behinderung. Weltweit erstmalig haben sie eine komplette Kirche mit aktueller Kunst ausgestattet. In einem sensiblen Prozess des Miteinanders wurden sie dabei von künstlerischen Betreuern des Frankfurter Ateliers Goldstein begleitet. Das Haus am Dom zeigt die Arbeiten und den Entstehungsprozess bis zum 22. Mai im Zollamtsaal, im Haus am Dom und im benachbarten Dommuseum.
Betörende Unbefangenheit
Der Frankfurter Kulturdezernent Felix Semmelroth würdigte das Atelier Goldstein der Lebenshilfe e.V. bei der Vernissage im vollbesetzten Zollamtssaal als eines der bedeutendsten Ateliers für die so genannte Outsider Art. Die „betörende Unbefangenheit“ der Künstler mit Beeinträchtigungen, aber zugleich schöpferischem Talent habe die „christliche Botschaft in ihre und damit in unsere Welt übersetzt und so anschaulich gemacht“. Sie mache eine Neubewertung der künstlerischen Bedeutung und des ästhetischen Ranges der gezeigten Arbeiten nötig.
Auch Sternberg hob hervor, dass hier tatsächlich Kunst entstanden sei, indem die Stil- und Bildsprache der jeweiligen Künstler ihren je eigenen Ausdruck gefunden habe. Den künstlerischen Begleitern im Atelier Goldstein sei zu danken, dass sie die Künstler unter „starker Zurücknahme der eigenen künstlerischen Persönlichkeit“ auf diesem oft schweren Weg von der Theologie zum Bild betreuten. Man spüre überall, dass hier sensible Künstler gemeinschaftlich ein großes Werk erarbeitet hätten.
Auch die Kuratoren der Ausstellung, Melanie Schmitt und Sven Fritz, betonten, dass die gruppe von einzelnen Künstlern und ihren künstlerischen Begleitern in dem fünfjährigen Prozess zu einem Team geworden sei. in "kollektiver Kreativität" und in heterogener Auseinandersetzung sei eine homogene Ausstattung der Marienkirche gelungen. Das Ergebnis präsentiere sich "radikal und klar".
Kunstwerke von Rang
Das 2001 gegründete Atelier Goldstein hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Beweis zu erbringen, dass bildende Künstler mit einer Beeinträchtigung in der Lage sind, Kunstwerke von Rang zu schaffen. 17 Künstler arbeiten dort derzeit professionell an Projekten aus den Bereichen Malerei, Plastik, Grafik, Fotografie, Film und Design. Zum Betreuerteam gehören unter der Leitung der Künstlerin Christiane Cuticchio Absolventen und Studenten von Kunsthochschulen, die nach einer speziellen, von dem Atelier entwickelten Methode die Künstler mit unterschiedlichen Behinderungen und Begabungen darin unterstützen, ihre eigene Bildsprache zu finden und auszudrücken.
Seit 2011 haben die Künstler sich mit der Marienkirche in Aulhausen auseinandergesetzt. Die aus dem frühen 13. Jahrhundert stammende Zisterzienserinnenkirche liegt auf dem Gelände des Sankt Vincenzstiftes Aulhausen, der größten Einrichtung des Bistums Limburg für Menschen mit Behinderung. Ihr Leiter Caspar Söling beauftragte das Atelier Goldstein mit der künstlerischen Neugestaltung der Innenausstattung. Ziel war, die verlorengegangene Spiritualität der Zisterzienser durch eine dem Ort angemessene zeitgenössische künstlerische Gestaltung wieder entstehen zu lassen. Die Marienkirche ist damit die erste von Künstlern mit geistiger Behinderung gestaltete Kirche.
Ausstellung und Rahmenprogramm bis zum 22. Mai
Zu sehen ist der Entstehungsprozess vom 13. April bis zum 22. Mai im Haus am Dom, Domplatz 3, und im Dommuseum jeweils dienstags bis sonntags von 11 bis 18 Uhr. Der Eintritt ist frei. Es gibt ein reichhaltiges Begleitprogramm, etwa die Soirée am Dom am Donnerstag, 14. April, um 19.30 Uhr „Zur Unbegreiflichkeit Gottes“ mit Caspar Söling oder einem Vortrag über Mystik und Reform „Die Zisterzienser als Vorboten der Moderne“ mit Gotthard Fuchs. Künstler- und Kuratorenführungen gibt es jeden Freitag um 16 Uhr, außerdem in der Nacht der Museen (23. April) um 20 und 21 Uhr, ergänzt von einer Musikperformance am selben Abend um 22 Uhr.
Zur Ausstellung erscheint der Katalog „Von der Unbegreiflichkeit Gottes“ Im Verlag Schnell + Steiner zum Preis von 19,90 Euro (im Buchhandel 29,90 ?). (dw)
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