FRANKFURT, 12.10.2020

"Auf Augenhöhe mit den Menschen reden"

Manuel Menrath reiste 2016 zu Indianer-Völkern in den hohen Norden Kanadas. Nun las er im Haus am Dom aus seinem Buch "Unter dem Nordlicht". Das Publikum war fasziniert.

Als der Schweizer Historiker Manuel Menrath sich entschloss, in die Gebiete im hohen Norden Kanadas zu reisen, die den Großteil des Jahres nur per Kleinflugzeug erreichbar sind, wusste er noch kaum etwas von der Kultur und Geschichte der dort lebenden Cree und Ojibwe. Zwar war er 2002 für einen längeren Sprachaufenthalt schon einmal in Kanada gewesen. „Aber von der indigenen Bevölkerung habe ich damals kaum etwas mitbekommen“, berichtet er.

2016 jedoch fasste er den Entschluss, die Indianer-Völker in den Reservatssiedlungen des dünn besiedelten Nordens zu erforschen. „Meine Methode war, keine Methode zu haben“, gesteht er bei seiner Lesung am Sonntag im Haus am Dom. Stattdessen wollte er mit den Menschen sprechen und sich zeigen lassen, wie sie leben. Um sich zu informieren, habe er aber im Vorfeld zwei Bücher gelesen. Und in einem davon kam Joyce Hunter vor, eine Cree-Aktivistin vom Peawanuck First Nation-Stamm in Ontario. Menrath schrieb ihr und erhielt Antwort: „Bevor du dieses Projekt richtig beginnst, ist es wichtig, dass die Geister der Ahnen eingeweiht sind und dich dabei begleiten“, teilte Joyce ihm mit. Und sie versprach: „Ich werde einen Elder bitten, diese Zeremonie für dich durchzuführen, und gebe dir Bescheid.“

Damals, im Sommer 2016, hatte Menrath erstmals das Gefühl, die mystische indianische Welt würde sich für ihn einen Spalt breit öffnen. Und vor Ort tat sie es weiter. Eine Begegnung zog die nächste nach sich, jeder Schritt führte ihn tiefer in die faszinierende, aber unbekannte indigene Kultur hinein. Die Angehörigen der Cree und Ojibwe ließen ihn teilnehmen an Ritualen wie der Vollmond-Zeremonie, sie zeigten ihm, wie sie leben, arbeiten und feiern.

Menrath bekam tiefe Einblicke in den kulturellen Reichtum der Völker einerseits und die tiefe Perspektivlosigkeit und Armut in den Reservaten andererseits. „Das Problem ist, dass die Angehörigen der indigenen Völker nur noch im begrenzten Gebiet der Reservate ihre Häuschen aufstellen dürfen, nicht mehr auf dem indigenen Land, das ihre Ahnen seit Jahrtausenden bestellt und bejagt haben“, fasst er zusammen. Zugleich bedrohen wirtschaftliche Interessen die ohnehin schon eng begrenzten Reservatsgebiete.

Große Vorbehalte gegen Wissenschaftler

Dabei war vor Beginn seiner Reise unklar, ob überhaupt einer der „First Nations“, wie Indianer in Kanada genannt werden, mit ihm sprechen würde. „Als Sie beschlossen haben, diese Völker zu besuchen, mussten Sie mit Vorbehalten rechnen, oder?“, fragt denn auch Martin Maria Schwarz, Moderator bei hr2-Kultur, der durch die Lesung führt. Ja, antwortet Menrath, damit habe er rechnen müssen, doch es sei ganz anders gekommen – erstaunlicherweise. „Ich habe beim Grand Chief natürlich zunächst die Erlaubnis eingeholt, die Geschichte zu erforschen und mit den Menschen zu sprechen“, berichtet er. Doch zugleich habe er auch ein tiefes Misstrauen der Wissenschaft gegenüber gespürt. Ein Chief habe ihm gesagt, alle Wissenschaftler, die bisher gekommen seien, hätten seinem Volk nur geschadet. Der Geologe habe Gold gefunden, daraufhin mussten die Menschen fortgehen. Der Anthropologe habe gesagt, das Volk sei primitiv, man könne es umsiedeln. Der Theologe sagte, die Menschen hätten keine Religion, der Philosoph sagte, man müsse sie umerziehen.

Feuerwehrmann und Musiker

„Da habe ich gemerkt, ich muss auf Augenhöhe mit den Menschen sprechen“, so Menrath. Also kam er nicht als Historiker, sondern knüpfte an anderen Stellen an. „Ich bin zum Beispiel auch Feuerwehrmann – das war interessant, denn in jedem Reservat gibt es einen Feuerbeauftragten. Als ich mich danach erkundigt habe, war ich sofort willkommen“, erzählt er. „Außerdem spiele ich Gitarre, also konnte ich mit ihnen musizieren. Ich glaube, man muss auf dieser Schnittstelle mit den Menschen kommunizieren, denn Wissenschaftler sind ein rotes Tuch.“

Die Mühe zahlte sich aus: Als Menrath schließlich in die Schweiz zurückkehrte, hatte er hunderte Interviews im Gepäck, die er später in seinem Buch „Unter dem Nordlicht“ verarbeitet und mit beeindruckenden Aufnahmen bebildert hat. Dass Indianer, wie der Historiker die Völker bewusst nennt, um dem Leser einen Bezug zum Thema zu geben, faszinieren, zeigt übrigens auch das große Interesse an der Lesung. Die Veranstaltung mit dem Titel "Brüchiges Eis", die im Vorfeld der Buchmesse rund ums Gastland Kanada im Haus am Dom stattfand und die zugleich auch die Eröffnung der digitalen Ausstellung "Open Channels" markierte, war ausverkauft.

Hier gibt es die gesamte Lesung im Video:

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