FRANKFURT, 23.10.2020

Die Defragmentierung der Zeit

Kann man den eigenen Erinnerungen trauen? Diese Frage wirft Buchpreisträger Frank Witzel in „Inniger Schiffbruch“ auf. Nun hat er ihn bei der Soirée am Dom vorgestellt. Ein Lesungsrückblick.

Den Anfang macht ein Traum, den er zwei Monate nach dem Tod seines Vaters hatte. Dem Ich-Erzähler kommt plötzlich in den Sinn, dass er schon lange nicht mehr nach dem leerstehenden Haus seiner verstorbenen Eltern gesehen hat. Er eilt dorthin und beschreibt, wie er aufschließt, wie die abgestanden-heiße Luft ihm entgegenschlägt und er sich über die Energieverschwendung ärgert. Der Leser erlebt, wie die Szenerie sich langsam, fast bleiern entfaltet, so als ob der Ich-Erzähler durch Wasser waten würde – nur ist es hier die überheizte Stille, die ihn umfängt.

Diese Einstiegsszene ins Buch hat etwas Traumartiges, auch wenn erst mit Auftauchen eines abgemagerten Rhinozerosses im Wohnzimmer vollends klar wird, dass der Erzähler nicht wach ist. Während ihm mit Schrecken klar wird, dass er für den bedauernswerten Zustand des Tieres verantwortlich ist, weil er es nach dem Tod der Eltern hätte versorgen müssen, verendet es vor seinen Augen. Und mit ihm stirbt – ja, was eigentlich?

Familiengeschichte neu zusammengesetzt

Kann man den eigenen Erinnerungen trauen? Diese sensible, fast verstörende Frage wirft Buchpreisträger Frank Witzel in seinem aktuellen Roman „Inniger Schiffbruch“ auf. Am Donnerstag hat er ihn bei der Soirée am Dom vorgestellt. In der bei Matthes & Seitz Berlin erschienenen, teilbiografischen Erzählung berichtet Witzel von einer bürgerlichen Familie in den 60er Jahren – und der Rekonstruktion dieser Zeit durch den Sohn, der nach dem Tod der Eltern die Familiengeschichte aufgrund von Tagebucheintragungen, Notizen und nicht zuletzt Träumen neu zusammensetzt.

Die Zuschauer erlebten einen atmosphärisch dichten Abend, in dem neben der äußerst detailreichen Erzählung auch viel über das literarische Umfeld des Buches diskutiert wurde. Denn der Roman ist dicht verwoben mit anderen Werken, immer wieder gibt es Querverweise, unter anderem auf Adorno, Walter Benjamin, Thomas Bernhard und Marcel Proust.

Tiefen der Literaturwissenschaft

Dass die Diskussion, die mit Publikum im Haus am Dom und zugleich digital stattfand, zeitweise in die Tiefen der Literaturwissenschaft hinabtauchte, lag sicher auch an der kurzfristigen Änderung der Soirée-Leitung: Da Studienleiterin Dr. Lisa Straßberger ausfiel, übernahm die Frankfurter Literaturwissenschaftlerin Stefana Sabin spontan die Moderation und setzte bei den Fragen eigene Akzente.

„Es ist ein Buch voller literarischer Anspielungen, eine davon ist auch der Titel“, befand Stefana Sabin schon in ihrer Anmoderation. Witzel erklärte daraufhin, der Ausdruck „Inniger Schiffbruch“ sei aus dem Gedicht "L'infinito" von Giacomo Leopardi entlehnt, aus der deutschen Rilke-Übersetzung, um genau zu sein: „Und mir fällt das Ewige ein / und daneben die alten Jahreszeiten und diese / daseiende Zeit, die lebendige, tönende. Also / sinkt der Gedanke mir weg ins Übermaß. Unter- / gehen in diesem Meer ist inniger Schiffbruch.“

Der Detailreichtum, die schiere Breite des Alles-Erzählen-Wollens fällt auf an Witzels Buch. „Ist diese Erinnerungsarbeit auch Trauerarbeit?“, wollte Sabin wissen. Im Grunde, antwortete Witzel, wisse der Ich-Erzähler kaum, ob es wirkliche Trauer sei, die er empfinde. „Er versucht, zu erkunden, warum er die Realität seiner Trauer infrage stellt“, erklärte Witzel. Das überschwängliche Erinnern sei als Kompensation zu verstehen, um die fehlende Nostalgie, das fehlende Gefühl zu kompensieren. Die Trauer, soviel steht fest kommt freilich noch früh genug, allerdings in gänzlich unerwarteten Situationen.

Was nicht kommod war

Witzels Sprache ist vollmundig, facettenreich, bildlastig. Mit ihr beschreibt er das ewige Schweigen, das schon früh gelernte Wegdrücken aller Themen, die den Eltern nicht kommod sind. „Dass es nicht ratsam scheint, als Kind auf Geheimnisse zu stoßen, die Erwachsene verbergen wollten, ahnte ich schon damals, nachdem ich gerade die Schwangerschaft meiner Mutter ohne entsprechende Fragen zu stellen verfolgt hatte“, lautet eine Passage des Buches. Und weiter: „In den nächsten Jahren würde ich die Fähigkeit, heikle Themen bereits vorzeitig erkennen und umgehen zu können, noch weiter verfeinern.“ Witzel konkretisiert: „Hinter einem Geheimnis schien sich immer eine Lücke in der Wahrnehmung von Realität aufzutun, und das, was Wirklichkeit generell war, in Frage stellte, weshalb sie verheimlicht und verschwiegen werden musste.“

Neben der Erzähl- und Trauerarbeit und den damit verbundenen innerlichen Schlüssen bietet das Buch auch jede Menge Anknüpfungspunkte an eigene Erinnerungen der 60er Jahre, zum Beispiel an die Mutter, die immer Kittelschürze trug, oder an den beliebten Bärenmarke-Werbespot, der so häufig im Fernsehen lief. Sabin und viele andere, die in dieser Zeit aufwuchsen, erleben das Buch deshalb als eine Art Zeitreise. „Insofern“, so das Resümee der Moderatorin, „ist das auch ein Roman, der zeigt, wie Leben zu Literatur wird.“ Literatur, die jede Leserin und jeder Zuhörer zwangsläufig mit den eigenen als wahr abgespeicherten Erinnerungen abgleicht – wie zwei Raster, die übereinandergelegt werden.

Die Lesung im Video

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