Ich hätte einer von denen sein können
FRANKFURT.- Ein Gespräch mit dem Theologen Joachim Valentin über „Das radikal Böse“ von Stefan Ruzowitzky
Josef Lederle, FILM-DIENST 3/2014
Eine Expertentagung im Haus am Dom in Frankfurt. Das Thema: „Die Faszination des Bösen. Filmische Erkundungen“. Theologen, Religionswissenschaftler und Medienschaffende diskutieren Werke von Quentin Tarantino („Inglourious Basterds“), David Lynch („Lost Highway“), Alexander Sokurow („Faust“ und die Diktatoren-Tetralogie). Leidenschaftlich und auf akademischem Level. Joachim Valentin, Professor für Christliche Religions- und Kulturtheologie an der Goethe-Universität Frankfurt, steuert eine ideengeschichtliche Skizze über die fünf wichtigsten Erklärungsmuster des Bösen bei, von dualistischen Modellen (Gott vs. Satan) bis zur „Entbösung des Bösen“ (etwa durch psychoanalytische Erklärungen). Nach der Sichtung von Stefan Ruzowitzkys „Das radikal Böse“ versiegt allerdings der Strom der Wörter, zumindest für eine Weile. Die Berichte über die Gräuel der sogenannten Einsatzgruppen, die nach dem Überfall auf die Sowjetunion hinter der Wehrmacht systematisch Dörfer und Städte durchkämmten und von 1941 bis 1943 rund zwei Millionen Menschen erschossen, sind so unfassbar, dass man sich innerlich erst einmal sortieren muss.
Der Film „Das radikal Böse“ wird in der Filmkritik kontrovers diskutiert. Was halten Sie von diesem Versuch, an die Verbrechen der Einsatzgruppen zu erinnern?
Joachim Valentin: Mich hat der Film tief beeindruckt. Natürlich erschlagen einen die Berichte der Täter in ihrer dämonischen Ungeheuerlichkeit, selbst wenn man die einschlägigen Bücher von Christopher Browning und Daniel Goldhagen gelesen hat. Der Film vergegenwärtigt die historischen Fakten, macht das aber zugleich ziemlich nüchtern, nur mit wenig Originalmaterial. Die Nazis haben sich ja viel Mühe gegeben, die Zeugnisse ihres Massenmordens zu vernichten. Das, was man hier an authentischen Aufnahmen sieht, reicht allerdings völlig aus, um einen Bezug zum historischen Geschehen zu bekommen. Entscheidend ist für mich aber, dass die mit Schauspielern oder Laien nachgestellten Szenen dem Zuschauer ausdrücklich freundliche Identifikationsfiguren anbieten. Man schaut den Soldaten in die Augen, nimmt an ihrem Alltag teil ? und ist zugleich mitten drin, nahezu synchron. Ich habe plötzlich gedacht: Du hättest einer von denen sein können.
Diese „Reenactments“ verbinden hier die authentischen Berichte der Täter mit nachinszenierten Szenen. Ein gebräuchliches, aber auch umstrittenes Verfahren, filmisch an vergangene Ereignisse zu erinnern. Sie haben sich daran nicht gestoßen?
Valentin: Wir haben in Deutschland nach wie vor ein Problem, uns mit dem zu identifizieren, was damals geschehen ist. Insbesondere damit, uns als Kinder oder Enkel von Tätern zu identifizieren. Das ist aber Realität. Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen. Die Täter- und Opferforschung hat ja gezeigt, dass es bei solchen extremen Brüchen für die psychische „Gesundheit“ nahezu notwendig ist, sich mit den schwarzen Löchern in der eigenen Familiengeschichte zu beschäftigen. Das gilt auch für die deutsche Geschichte; die Nazis sind ja nicht von irgendeinem Planeten gekommen, der nach 1945 plötzlich wieder verschwunden ist. Um es für meine Person konkret zu machen: Ich identifiziere mich persönlich mit meinem Großonkel, der an der Ostfront gedient hat, mit meinem Großvater, der vor Stalingrad gefallen ist. Die waren nicht bei diesen Erschießungskommandos, aber ich bekomme durch den Film einen Begriff davon, was eine große Anzahl junger Männer der Generation meiner Großeltern getan hat. Davor kann und darf ich nicht fliehen. Das ist die große Chance dieses Films. Deswegen ist es auch kein reiner Dokumentarfilm, sondern eine Doku-Fiction, die emotionales „Futter“ anbietet. Ich kann hier vor den Fakten nicht fliehen, weil ich in die Augen dieser jungen Männer schauen muss. Ich halte jeden Zuschauer, jeden Kinogänger für kompetent und erwachsen und reflektiert genug, um diese verschiedenen Ebenen auseinander zu halten.
Beschäftigt Sie dieses Thema auch aus persönlichen Gründen?
Valentin: Ich bin in Hadamar geboren, wo in der psychiatrischen Klinik im Rahmen der T4-Euthanasie- Aktion rund 15.000 Menschen umgebracht wurden. Meine Oma hat jeden Tag beim Wäscheaufhängen die Wolken aus dem Krematorium aufsteigen sehen. Ich würde nicht sagen, dass meine Herkunftsgeschichte in diesem Kontext irgendetwas Besonderes ist. Es gibt Tausende solcher Familiengeschichten, die davon zutiefst betroffen sind.
Die Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit und der Vernichtung des europäischen Judentums ist für unsere Gesellschaft also weiterhin notwendig?
Valentin: Ja, unbedingt. Wir, die Angehörige der dritten Generation, und zwar auf Täter- wie Opferseite, stehen ja vor dem Faktum, dass die Zeitzeugen aussterben und die eh schon brüchigen Fäden ganz zerreißen. Auch die Opfer haben ja nicht alles erzählt. Manche haben Jahrzehnte lang geschwiegen, dass Angehörige in Ausschwitz umgekommen sind. Deshalb braucht es innovative ästhetische Formen, um das Thema präsent zu halten. Beispielsweise auch einen Mehrteiler wie „Unsere Mütter, unsere Väter“ von Philipp Kadelbach. Ein Film, der im Ausland kritisch rezipiert wird, als angeblich selbstverliebt-deutsch. Vielleicht müssen wir nochmal nachdenken, ob das sogar stimmt. Natürlich gehören aber auch (Fernseh-)Filme wie „Dresden“ oder „Die Gustloff“ dazu, in denen Deutsche als Opfer gezeigt werden. Das sind ja auch Teile der Aufarbeitung unserer Vergangenheit, und überdies Beiträge, die größere Bevölkerungsschichten erreichen.
„Das radikale Böse“ führt viele Untersuchungen an und lässt Fachleute zu Wort kommen, die auf die strukturellen Bedingungen der Massenerschießungen abheben?
Valentin: Ich bin kein Fachmann, was die einschlägigen Untersuchungen der letzten Jahre angeht. Doch was wir bei Ruzowitzky sehen und erfahren über die Neigung des Menschen, sich Gruppen anzuschließen und deren Regeln und Codes zu übernehmen, hat eine hohe Plausibilität. Man kann nachvollziehen, dass junge Männer außerhalb ihres sozialen Kontexts, ihrer Familie, ihres Berufs und ihrer Heimat hinreichend destabilisiert waren, um sich einem Gruppenwillen und einer vorgegebenen Definition von Juden als Ungeziefer anzupassen. Da spielt natürlich auch die militärische Ausbildung, der jahrzehntelange, nicht erst von den Nazis erfundene Antisemitismus herein und vieles, vieles mehr.
Was für mich aber fast wichtiger ist als alle strukturellen Erklärungen, ist die auch in den Experimenten bestätigte Erkenntnis, dass einzelne Personen sich verweigern können. Die alte Frage: Hätte man auch anders gekonnt? Das Gute zu tun, bedeutete im konkreten Fall ja, das eigene Leben einzusetzen. Eine solche Anforderung kann man nur an sich selbst stellen, die kann kein anderer stellen. Aber der Film führt uns vor Augen, dass es Möglichkeiten gab, straffrei den Dienst zu verweigern. Einzelne Polizisten oder Soldaten haben das getan! Jetzt könnte man hochrechnen, was passiert wäre, wenn sich ganze Kompanien verweigert hätten... Wir stoßen hier an die ganz weitreichende Frage des Möglichen, und zwar nicht in Gestalt von heroischen Einzeltätern wie etwa den Mitgliedern der Weißen Rose, sondern in Gestalt einfacher Soldaten, die schlicht „Nein“ gesagt haben zu einer unzumutbaren Handlung, nämlich in Massen Menschen zu erschießen. Diese Frage wird vom Film aufgeworfen ? und beantwortet. Es gibt klare Anzeichen dafür, bewiesen in Experimenten, dass Menschen in der Lage sind, sich von der Gruppenmeinung zu distanzieren, und dann ihrerseits eine widerständige Kleingruppe zu errichten.
So bewundernswert der Widerstand Einzelner auch ist, legt der Titel des Films doch auch ein andere Spur: Mit dem „radikal Bösen“ klingen durchaus dämonisch-satanistische Vorstellungen an?
Der Film lässt dies in seiner ganzen Doppelbödigkeit stehen: Woher kommt denn das radikal Böse? Das wird ja ausgiebig skizziert, wie das NS-System diese Untaten erzeugt, weil es alles Individuelle absorbiert und seine Szenarien an dessen Stelle setzt. Die Frage, was grundsätzlich dahinter steckt, lässt sich nicht mehr empirisch beantworten, das ist eine philosophische Frage. Gibt es das radikal Böse, gibt es den Teufel usw. Es hilft uns überhaupt nichts, das Böse in irgendeiner Weise zu personifizieren oder außerhalb von uns zu lokalisieren. Statt zu sagen, Adolf Hitler war so was wie ein Teufel, müssen wir uns klar vor Augen halten, dass nach der Aufklärung und ihrem Subjektbegriff der Einzelne für seine Taten radikal verantwortlich ist.
Welche Anfragen stellt der Film an die Theologie? Oder an die katholische Kirche?
Valentin: All das, worüber wir gesprochen haben, ist Thema der Theologie, auch wenn sich in Deutschland eine Post-Shoah-Theologie nur am Rande etabliert hat. Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass Ausschwitz keine neue Frage stellt, sondern vielmehr „nur“ die nach Verantwortung, weil die Ungeheuerlichkeit des Bösen, das da geschehen ist, unausweichlich wird. Man kann das Böse nicht mehr kleinreden, als Mangel des Guten oder etwas in diesem Sinne. Sondern es stellt die große Frage nach der Verantwortung des Einzelnen auch in theologischer Hinsicht. Das reicht bis in die Gotteslehre, bis zur Interpretation, wer Christus ist. Sitzt der nur irgendwo auf einem Thron oder ist er ganz nah bei den Menschen in den Lagern, bei den Leidenden und Opfern ? und auch bei den Tätern, insofern sie Opfer ihre eigenen Taten werden. Das sind zentrale theologische Fragen, die dann in der Folge natürlich mit Kreuz und Auferstehung zu tun haben.
Joachim Valentin
* Geb. 1965 in Hadamar. Direktor des „Haus am Dom“ in Frankfurt
* Professor für Christliche Religions- und Kulturtheorie, Goethe-Universität Frankfurt. Unter anderem auch Mitglied der Katholischen Filmkommission der Deutschen Bischofskonferenz
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