FRANKFURT, 06.11.2020
"Rosemarie ist nicht exemplarisch für die Lebensrealität"
Frauen, die als Armutsprostituierte in Städten wie Frankfurt anschaffen, leiden auf besondere Weise unter der aktuellen Pandemie. Denn die strengen Corona-Auflagen haben dazu geführt, dass sie nicht mehr arbeiten dürfen - eigentlich. „Frauen, die sich aus Armut prostituieren, haben keine Rücklagen, keine eigene Infrastruktur, keinen Wohnraum“, sagt Elvira Niesner, Geschäftsführerin von „Frauenrecht ist Menschenrecht“ (FIM). „Ihnen fehlt es an allem. Diese Frauen brauchen Hilfe – sofort.“
Wie schlecht die Arbeitsverhältnisse vieler Prostituierter schon vor der Pandemie waren, wurde bei der Diskussionsrunde „Rosemarie – Leben im Rotlicht“ deutlich, die in dieser Woche vom Haus am Dom aus live gestreamt wurde. Dr. Lisa Straßberger, Studienleiterin der Katholischen Akademie, moderierte den Abend gemeinsam mit Mechthild Jansen von der Initiative „Frau am Dom“. Zugeschaltet war neben Elvira Niesner auch Sabine Slawik, Vizepräsidentin des Katholischen Deutschen Frauenbundes (KDFB).
Anlass für die Runde war die Aktion „Frankfurt liest ein Buch“, die sich in diesem Jahr mit dem Buch „Rosemarie“ von Erich Kuby von Ende der 50er Jahre beschäftigt. In dem kurzen Stück, das Lisa Straßberger daraus vorlas, wurde die bekannte Prostituierte Rosemarie Nitribitt als Unternehmerin geschildert, die selbst entscheiden konnte, auf welche Angebote sie sich einlässt. Die Arbeitsrealität der allermeisten Prostituierten unterscheidet sich davon allerdings deutlich, das wurde schnell klar.
Sehr unterschiedliche Arbeits- und Ausbeutungsverhältnisse
In Frankfurt leben und arbeiteten zuletzt um die 2000 Prostituierte, sagte Elvira Niesner. Dabei gebe es sehr unterschiedliche Formen von Prostitution – und sehr unterschiedliche Arbeits- und Ausbeutungsverhältnisse. „Es gibt elitäre, Armuts- und Zusatzprostitution, Zwangsprostitution und Opfer von Menschenhandel“, zählte sie auf. „Doch egal ob Frankfurt oder bundesweit: Die größte Gruppe sind die Armutsprostituierten, Frauen, die aus sehr schwierigen Lebensverhältnissen kommen und Gewalterfahrung haben.“ Viele stammten aus osteuropäischen Ländern, vor allem Rumänien und Bulgarien. Die Frauen bieten ihre Dienste auf der Straße oder in Bordellen an, in sogenannten Wellness-Oasen oder in Privatwohnungen. Immer mehr Bedeutung bekommt auch die virtuelle Sexarbeit oder die Verabredung mit Freiern übers Internet.
Verlagerung in die Corona-bedingte Illegalität
Bordelle sind im zweiten Lockdown noch bis mindestens Ende November 2020 geschlossen. Doch Niesner, die mit ihrer Organisation Ansprechpartnerin vor allem für Prostituierte in prekärer Arbeitssituation ist, berichtet, dass dieses Verbot von vielen ignoriert wird. „Die Frauen gehen wieder anschaffen, auch wenn das unter den jetzigen Bedingungen nicht erlaubt ist. Aber die Nachfrage von Freiern ist da, und die Frauen brauchen das Geld.“ Dies führe dazu, dass Prostitution unter noch schlechteren Bedingungen stattfinde als zuvor – und dass die Frauen sich noch weniger gegen Gewalt wehren könnten. Und zwar durch die Corona-bedingte Illegalität: „Im Zuge des Prostitutionsschutzgesetzes konnte langsam ein Vertrauensverhältnis zur Polizei aufgebaut werden; die Frauen wissen mittlerweile, dass man ihnen dort helfen kann, wenn etwas passiert. Durch die Dunkelfeldsituation ist das aber gerade nicht mehr möglich“, erklärt Niesner.
Immerhin: Durch die Pandemie würden mehr Frauen über einen Ausstieg nachdenken. „Für eine Frau, die keine Ausbildung hat, die die Sprache nicht oder nur kaum spricht und auch eine von Abhängigkeit geprägte Biografie hat, ist es superschwer, sich eine Existenz aufzubauen“, so die FIM-Geschäftsführerin. Beratungsstellen wie ihre erleben zudem, dass Corona den Kontakt zu betroffenen Frauen erschwert.
Kein Beruf wie jeder andere
KDFB-Vizepräsidentin Sabine Slawik sagte, Corona hätte noch einmal deutlich gemacht, dass Prostitution eben doch kein „Beruf wie jeder andere“ sei. Während der KDFB einst das Prostituiertenschutzgesetz unterstützte, hat man mittlerweile – auch aufgrund der Pandemie – eine andere Richtung eingeschlagen. „Gerade haben wir auf unserer Bundesdelegiertenversammlung einen Antrag verabschiedet, in dem wir dem Nordischen Modell des Sexkaufverbots zustimmen“, so Slawik. Beim „Nordischen Modell“, oft auch „Schwedisches Modell“, das neben Schweden auch in Norwegen, Finnland, Island, Frankreich und Irland Anwendung findet, ist das Angebot sexueller Dienstleistungen legal, deren Wahrnehmung aber verboten. „Wir fordern eine Entkriminalisierung der Prostituierten, Hilfe für den Ausstieg der Frauen sowie eine bessere Aufklärung der Bevölkerung und von Berufsgruppen wie Justiz, Polizei und Sozialarbeit“, sagt Slawik.
Elend ist nicht immer augenscheinlich
Dem KDFB lägen Zahlen vor, die besagten, dass der „überüberüberwiegende“ Prozentsatz der Sexarbeiterinnen sich aus der Not heraus prostituieren. Doch nicht immer ist das Elend augenscheinlich: „Das kann auch die Studentin sein, die meint, dass sie damit ihr Studium finanzieren kann – und die in diesen Teufelskreislauf gerät, aus dem sie nicht mehr aussteigen kann. Es gibt so viele Beispiele von Frauen, die sich überhaupt nicht wehren können.“

Moderatorin Mechthild Jansen hakte nach, ob die Prostitution durch das Nordische Modell nicht in den Untergrund getrieben würde. „Aussterben würde sie natürlich noch lange nicht“, so Slawik. „Aber es wäre einen Versuch wert. Wir hoffen, dass sich in der Bevölkerung so eine ganz andere Einstellung entwickeln würde, ein neues Unrechtsbewusstsein, das momentan oft noch fehlt.“
Der Traumjob, der keiner ist
Dazu gehört, über die Situation von Prostituierten aufzuklären – nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Herkunftsländern in Südosteuropa. „Jemand von uns muss dort hinfahren und die jungen Frauen und Männer darauf hinweisen, dass der vermeintliche Traumjob in Deutschland nicht unbedingt dem entspricht, was sie sich darunter vorstellen“, so die KDFB-Vizepräsidentin. Ein Beispiel dafür gebe es im baden-württembergischen Ostalbkreis: Dort hat sich der Landrat mit Bürgermeistern zusammengetan, um eine Stelle zu finanzieren, die Aufklärung betreibt – vor Ort und in Rumänien.
Freier sind nicht immer Ausbeuter
Auch Niesner sieht die Aufklärung als wesentlichen Faktor. Trotzdem sei es schwierig, mit den Freiern ins Gespräch zu kommen. „Wir stehen mit einigen Männerberatungsstellen in Kontakt, als Kooperationspartner für die männliche Seite.“ Mit diesen Beratungsstellen habe man zum Beispiel eine anonyme Hotline für Freier eingerichtet, um über die Arbeitsbedingungen von Prostituierten aufzuklären. „Aus den Erfahrungen dort konnten wir schließen, dass natürlich auch Freier nicht immer Ausbeuter sind, sondern oft einfach Männer, die für ein gewisses Geld eine Dienstleistung haben wollen.“