KÖNIGSTEIN, 20.11.2020
Wach und mit Notizbuch durch die Welt

„Herzlich willkommen, Susan Kreller“ steht an diesem Morgen an der Tafel der 9b in der St. Angela-Schule. Doch der Ehrengast ist nur online zugeschaltet und nicht live vor Ort, wie ursprünglich geplant. Die Klasse hatte mit ihrer Deutschlehrerin Dr. Antonia Bräutigam erfolgreich an der Verlosung „Ausgezeichnete Literatur in Schulen“ teilgenommen und einen Besuch der diesjährigen Trägerin des katholischen Kinder- und Jugendbuchpreises in der Schule samt Lesung aus ihrem ausgezeichneten Werk gewonnen. Dass die zwei Schulstunden auch unter Coronabedingungen zu einem besonderen Ereignis werden, ist dem fesselnden Buch und seiner nahbar und sympathisch auftretenden Autorin ebenso zu verdanken wie dem höchst aufmerksamen und gut vorbereiteten Publikum.
Die Neuntklässlerinnen hatten „Elektrische Fische“ während der Schulschließung im Frühjahr gelesen und sich im Chat und in Videokonferenzen darüber ausgetauscht, berichtet die Lehrerin. Da die Lesung jetzt ebenfalls online stattfinde, „schließt sich der Kreis“, meint sie. Susan Kreller selbst weist zu Beginn daraufhin, dass auch das Thema des Buches, Heimweh, gut in die Zeit passe. Zwar habe hier keiner seinen Ort verlassen, aber vieles fühle sich gerade auch wie Fremdsein und Heimatlosigkeit an.

„Der Mond sieht aus wie ein Ohr, halb schief hängt er über der finsteren Landstraße“, mit diesem Satz im ersten Kapitel wird bereits der besondere poetische Ton angeschlagen, der das Buch ausmacht. Erzählt wird aus der Sicht von Emma. Sie muss mit ihrer Mutter und ihren zwei Geschwistern von Dublin in ein kleines Dorf in Mecklenburg-Vorpommern umziehen. Ihr anfängliches grenzenloses Verloren-Sein fasst sie ebenso wie das langsame Ankommen und die erste Liebe lakonisch, mit Witz, vor allem aber mit sehr präzisen Beobachtungen in Worte.
Wie wichtig ihr die Sprache ist, unterstreicht die Schriftstellerin mehrfach an diesem Vormittag. Gefühle in Sprache zu übersetzen und die Leser zum Lachen und zum Weinen zu bringen, am besten gleichzeitig, so beschreibt sie auf eine entsprechende Frage hin ihre Motivation. Dass ihr das auch bei diesem Klassenzimmer voller Leserinnen gelungen ist, zeigen nicht nur die Lieblingszitate an der Tafel, sondern auch das Interesse der Gymnasiastinnen, die vieles wissen wollen: Mit welchem Charakter die Autorin sich besonders identifizieren könne – „mit allen: ich muss jede Figur ein bisschen sein“ -, wo ihre eigenen Bücher Zuhause stünden – „die haben einen besonderen Ort im Regal“ – und ob die Familie zur Probe lesen dürfe: „nur mein Mann.“ Der fast vierzehnjährigen Tochter sei eine Beschreibung der ersten Liebe durch die Mutter eher peinlich, sagt Susan Kreller, und die Schülerinnen signalisieren hinter ihren Masken volles Verständnis.
Ideen zu haben ist ein bisschen Magie
Offen und anschaulich gibt die 1977 in Plauen geborene Schriftstellerin Einblick in ihre Schreibwerkstatt. Sie plant ihre jeweiligen Geschichten vorab bis ins Detail, sogar bis zur Schuhgröße ihrer Protagonisten, sammelt mögliche Vornamen in einer eigenen Liste und „lauscht Gesprächen im Café“, wie sie lachend verrät. Ideen zu haben, das sei „ein bisschen Magie“, sagt sie, und hat dennoch ein paar Tipps für die künftigen Autorinnen unter ihren Zuhörerinnen parat: Viel lesen, genau beobachten, wach durch die Welt gehen und immer ein Notizbuch dabei haben. Wie zum Beweis hält sie ihres, fein säuberlich beschriftet, in die Kamera und die Schülerinnen danken mit lebhaften Applaus für die Lektion der etwas anderen Art.
„Ausgezeichnete Literatur in Schulen“ ist ein gemeinsames Projekt des Amtes für Katholische Religionspädagogik Frankfurt, der Katholischen Akademie Rabanus Maurus, der St. Hildegard-Schulgesellschaft, und des Jungen Literaturhauses. Neben der Organisation einer kostenfreien Lesung, die verlost wird, gehören dazu „Mobile Klassenzimmerlesungen – ausgezeichnete Literatur in die Schulen“. Bei der zweiten Staffel dieser ebenfalls kostenfreien Veranstaltungen liest die Schauspielerin Altine Emine aus „Elektrische Fische“ (ab 12 Jahre) oder aus „Long Way Down“ (ab 14 Jahre) von Jason Reynolds. Interessierte Schulklassen können sich dafür anmelden bei Gabriele Fachinger, bibliothek@st-angela-schule.de, Telefon: 06174 923 13 95.
Susan Kreller hat in diesem Jahr den Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2020 der Deutschen Bischofskonferenz für das im Carlsen Verlag erschienene Buch „Elektrische Fische“ erhalten. Die Jury unter Vorsitz von Weihbischof Robert Brahm (Trier) hatte das diesjährige Preisbuch aus 231 Titeln ausgewählt, die von 71 Verlagen eingereicht wurden. Der Katholische Kinder- und Jugendbuchpreis wurde in diesem Jahr zum 31. Mal vergeben.