FRANKFURT, 19.01.2021
Konflikte im Nahen Osten - „Christen sind ein wichtiger Schlüssel!“
Die Christen im Nahen Osten könnten eine Schlüsselrolle in der Bewältigung des seit Jahrzehnten andauernden Konflikts spielen. Das sagte Prior Gaby Geagea, Leiter der Maronitenmission Deutschland in Frankfurt und selbst als arabisch sprechender Christ im Libanon geboren, bei der Veranstaltung „Christliche Minderheiten im Nahen Osten“, die am Montagabend live aus dem Haus am Dom gestreamt wurde. „Die Probleme müssen, auch wenn sie schon seit einiger Zeit hier herüber kommen, nicht in Europa, sondern im Nahen Osten gelöst werden – und dazu sind die Christen im Nahen Osten ein sehr wichtiger Schlüssel“, so der Pfarrer. Er betonte, Papst Benedikt sehe diese Christen berufen: „Sie sollen nicht Anhänger sein, sondern Vermittler und Brücke.“ Natürlich gebe es viele kleine Minderheiten und eine Vielzahl unterschiedlicher christlicher Kirchenströmungen im Nahen Osten. „Aber ich glaube, die Christen in diesen Ländern haben das Potenzial, eine gemeinsame ,Kirche der Araber‘ aufzubauen, die den Muslimen beistehen kann, raus aus einer frustrierten Theologie zu kommen“, formulierte Geagea. Davon könnte auch Europa profitieren, denn der Populismus, der in Deutschland und anderen Ländern erstarke, sei vor allem gespeist aus Islam-Ängsten.
Doch noch gibt es diese eine arabisch-christliche Kirche nicht – das wurde im Lauf des Abends sehr deutlich. Sophia Kremser führte durch die Veranstaltung, die in Kooperation mit „Theologie interkulturell“, einer Veranstaltungsreihe des Fachbereichs 07 der Goethe Universität unter Verantwortung von Prof. Dr. Anja Middelbeck-Varwick stattfand und die von der Deutschen Bischofskonferenz gefördert wurde. Gut eineinhalb Stunden lang diskutierten Pater Gaby Geagea, die Wiener Religionswissenschaftlerin Dr. Viola Raheb und Bernd Mussinghoff, Generalsekretär der Stiftung Pro Oriente Wien, wobei die beiden Gäste aus Wien digital zugeschaltet waren.
„Zusammenarbeit ist noch ausbaufähig“
Messinghoff zeigte auf, wie Europa-zentriert der Blick auf den „Nahen Osten“ ist. Er beleuchtete die historische Grundlage der verschiedenen in dieser Region ansässigen Kirchenfamilien und machte deutlich, dass es durch die verschiedenen Ausprägungen für die doch überschaubare Zahl von Christen im Nahen Osten eine verhältnismäßig große Anzahl von Kirchen gibt. „Das zeigt, dass Zusammenarbeit hier eine existenzielle Herausforderung ist, damit die christliche Stimme im politischen Raum und in den zivilgesellschaftlichen Kontexten Gehör finden können“, sagte der ehemalige Referent für Weltkirche im Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz in Bonn, der seit 2015 bei der Stiftung Pro Oriente arbeitet. Das funktioniere mal besser, mal schlechter: „Die Zusammenarbeit zwischen dieser Vielzahl von Kirchen darf man, ohne jemandem zu nahe treten zu wollen, aber schon noch als ausbaufähig bezeichnen.“ Immerhin gebe es das „Middle East Council of Churches“, einen Zusammenschluss christlicher Kirchen auf regionaler Ebene mit Sitz in Beirut, in dem immerhin vier von fünf Kirchenfamilien zusammengeschlossen seien.
Bürgerkrieg, Putsch und Grausamkeiten
Seine Wiener Kollegin Dr. Viola Raheb stammt gebürtig aus Betlehem und somit selbst aus dem Nahen Osten, daher vertrat sie, wie sie selbst anmerkte, eine Innensicht. „Wir reden über Länder, die sich zum Teil – wie in Israel und Palästina - seit 74 Jahren in einem andauernden Konflikt befinden, wir reden über Bürgerkrieg, Putsch und Grausamkeiten“, machte sie klar. „Diese politischen Veränderungen haben massiv dazu beigetragen, dass die in diesen Ländern lebenden Menschen ganz unabhängig von ihrer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit sehr viele kollektive Traumata erlitten haben, das gehört zur Lebensrealität.“
Die drei Gesichter der christlichen Migration
Die Geschichte christlicher Präsenz sei geprägt von Migration, führte die Expertin für Entwicklungszusammenarbeit und interkulturellen Dialog aus. Diese habe aber verschiedene Gesichter. „Eine Art der Migration entstand durch die Flucht christlicher Gemeinden, die Anfang des letzten Jahrhunderts verfolgt wurden und so in den Nahen Osten kamen. Der Prozentsatz der christlichen Bevölkerung hat sich dadurch verschoben.“ Eine große Veränderung, die oft vergessen werde, sei die christliche Präsenz in der Türkei, die im Vergleich von 1910 zu heute massiv geschrumpft sei. In palästinensischen Gebieten liege die christliche Präsenz bei 1,2 Prozent, zahlenmäßig lebten dort ca. 55.000 bis 60.000 Christinnen und Christen.
Eine zweite Art von Migration sei die Arbeitsmigration, die zu einer christlichen Präsenz in den Golfstaaten geführt habe. Christinnen und Christen von den Philippinen, aus Indien oder Sri Lanka seien an den Golf gekommen und lebten nun, zum Beispiel in Saudi Arabien, nicht als christliche Bürgerinnen und Bürger, sondern unter zum Teil ausbeuterischen Arbeitsbedingungen. Und die dritte Art der Migration betrifft die großen christlichen Gemeinden, die heute in der Diaspora leben. „In Deutschland und Österreich erlebten wir nach 2015 eine Zunahme der christlichen, orientalisch-arabischen Präsenz im Zuge der Flucht von Menschen aus dieser Region.“
Auch Dr. Raheb hob die große Rolle, die Christinnen und Christen bei der Sicherung von Demokratie und Frieden spielen könnten, heraus: „Obwohl die christlichen Gemeinden in den Ländern des Nahen Ostens zahlenmäßig am Schrumpfen sind, leisten sie einen wichtigen Beitrag in den Bereichen Bildung, Medizin, im humanitären Bereich und bei der Betreuung und Unterstützung von Geflüchteten. Somit leisten sie auch einen unerlässlichen Beitrag für demokratische Veränderung in der Region.“
Weitere Veranstaltungen zum Thema
Mittwoch, 20. Januar 2021, 12-14 Uhr:
„Christlich-muslimische Beziehungen im Nahen Osten. Chancen und Hindernisse“
Mittagsgespräch
Dr. Viola Raheb im Gespräch mit: Prof. Dr. Bekim Agai
Moderation: Prof. Dr. Anja Middelbeck-Varwick
Livestream: https://youtu.be/tGgq1tswRJs
Mittwoch, 20. Januar 2021, 19 Uhr:
„Interreligiöses Zusammenleben im Nahen Osten? Möglichkeiten und Grenzen“
Podiumsdiskussion
Dr. Viola Raheb im Gespräch mit: Prof. Dr. Dirk Ansorge (Sankt Georgen); Dr. Timo Güzelman-sur (CIBEDO); Prof. Dr. theol. Tobias Specker SJ (Sankt Georgen); Prof. Dr. Anja Middelbeck-Varwick (Goethe-Universität)
Livestream: https://youtu.be/ED6UtB3Z9SA
Donnerstag, 21. Januar 2021, 12-14 Uhr:
„Frauenrechte im Nahen Osten. Gegenwärtige Entwicklungen“
Mittagsgespräch
Dr. Viola Raheb im Gespräch mit: Prof. Dr. Ulrike Bechmann (Universität Graz) und Katja Voges (Referentin für Menschenrechte und Religionsfreiheit, Missio Aachen)
Moderation: Prof. Dr. Anja Middelbeck-Varwick
Livestream: https://youtu.be/8QLZnEDb_so