FRANKFURT, 20.05.2021
„Wir wussten nicht, wie gut wir es hatten“

„Wir wussten nicht, wie gut wir es hatten.“ Diesen einprägsamen Satz sagte Schülerin Analina Pitel bei der Eröffnungsveranstaltung der Frankfurter Hausgespräche am gestrigen Mittwochabend im Haus am Dom. Im Auftakt zur vierteiligen Reihe, der unter dem Titel „Wie wollen wir einander begegnen?“ die Erfahrungen und Ausblicke der jungen Generation in der Pandemie in den Blick nahm, saß die 16-Jährige mit auf dem Podium.
Doch was zunächst nach Hoffnungslosigkeit klang, ist für Analina viel mehr ein Lerneffekt aus Corona, der Gutes für die Zukunft hoffen lässt: „Wir haben gemerkt, dass das, was wir haben, nicht selbstverständlich ist. Am Anfang der Nach-Pandemie-Zeit werden wir uns deswegen anders begegnen, selbstloser und glücklicher sein. Wir werden uns über jede Umarmung freuen, die vorher ganz normal für uns war“, so die Schülerin.
Die richtigen Fragen
Wie hat die junge Generation die Pandemie erlebt? Wie wurde sie durch die Erfahrung geprägt – und wie wird sich das alles auf eine Zeit „danach“ auswirken? Diese Themen standen im Mittelpunkt der sehr aufschlussreichen Gespräche. Veranstalter des Auftakts war die Stiftung Polytechnische Gesellschaft. Deren Vorstandsvorsitzender Prof. Dr. Roland Kaehlbrandt stellte als Moderator die richtigen Fragen, hakte nach und trug so dazu bei, dass der Abend effektive und sehr persönliche Antworten lieferte. So sagte zum Beispiel Abiturientin Solveig Tränkner, vor der Pandemie habe sie das Gefühl gehabt, in einer heilen Welt zu leben. Doch durch Corona sei ihr klar geworden: „So etwas kann passieren, auch in Deutschland.“
„In der Pandemie und im Krieg“
Analina Pitel zieht für sich aus Corona den Schluss, dass sie die Möglichkeit einer Dauer-Pandemie bei der Berufswahl berücksichtigen muss. „So eine Situation kann jederzeit wieder kommen, deshalb kann ich nicht jeden Beruf wählen. Ich werde etwas machen, das in jeder Lage weiter gebraucht wird.“ Ihre Eltern würden ihr zur Medizin raten, denn Ärztinnen seien „in der Pandemie und im Krieg“ immer gefragt, so die Jugendliche: „Oder etwas mit IT.“
Mehr oder weniger Zeit?
Das Erleben von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Corona ist mittlerweile auch wissenschaftlich untersucht. Prof. Dr. Sabine Andresen, Professorin für Sozialpädagogik und Familienforschung an der Goethe-Universität Frankfurt, hat gemeinsam mit Kolleg*innen der Uni Frankfurt und der Uni Hildesheim in zwei Studien danach gefragt, wie es den Jungen in der Pandemie geht. 5000 junge Menschen nahmen an der ersten Studie im ersten Lockdown teil, 7000 an der zweiten Studie im November 2020.
Im Haus am Dom gab Prof. Andresen Einblicke in die unterschiedlichen Perspektiven der Antwortenden. So habe ein Teilnehmender angegeben, die Corona-Pandemie habe ihm wertvolle Zeit genommen, eine andere Antwort lautete: „In der Corona-Pandemie kann ich meine Zeit endlich frei einteilen und aufstehen, wann ich möchte.“ Das zeige, wie stark die persönliche Lebenssituation der Antwortenden das Empfinden beeinflusse. Dazu gehören die Wohnverhältnisse, die finanzielle Lage, die digitale Ausstattung und weitere Punkte.
Verunsichert, was richtig ist
Allerdings ließen sich laut Andresen und ihren Kolleg*innen doch verbindende kollektive Erfahrungen ausmachen. „So gut wie alle jungen Menschen, die uns geantwortet haben, sind am Anfang der Pandemie erst einmal nach Hause geschickt worden. Auch zeigt sich bei vielen, dass Jugendliche und junge Erwachsene sich nicht gesehen, nicht gehört und nicht beteiligt fühlen.“ Viele würden verzweifelt versuchen, sich richtig zu verhalten, seien aber oft verunsichert, was denn richtig sei, so Prof. Andresen – zum Beispiel, wenn man sich an die Abstandsregeln halten möchte, aber die beste Freundin Trost brauche. Gleichwohl sagten in den Studien über 60 Prozent, die Maßnahmen zum Infektionsschutz seien zwar oft verwirrend und widersprüchlich, aber dennoch richtig und wichtig.
Sehr alleine gefühlt
Auffällig: Gut die Hälfte der Studierenden, dass sie nicht gut klar kämen mit dem Lernen zuhause. Bei den Schülerinnen und Schülern machte ein Drittel diese Erfahrung. So ging es auch Solveig Tränkner, die einräumte: „Es war ein heftiges Schuljahr.“ Am Anfang habe sie sich sehr auf sich allein gestellt gefühlt, habe oft nicht einmal Kontakt zu Lehrerin oder Lehrer aufnehmen können, da sie keine Mail-Adressen gehabt hatte. „Teilweise haben wir Aufgaben bekommen für einen ganzen Monat, die man sich selbst einteilen musste. In den ersten Osterferien hat das dazu geführt, dass ich gar keine richtigen Ferien gemacht habe, weil ich einfach noch so viele Aufgaben zu erledigen hatte.“ Nach und nach habe sie aber gelernt, ihre Tage zu strukturieren, mit Pausen und einem geordneten Feierabend, Sport und regelmäßigen Schlafenzeiten. „Das war eine sehr gute Lernerfahrung“, sagte sie nun rückblickend.
„Wir sind Teil der Geschichte und erleiden sie nicht nur“
Dem Ergebnis der Studie, dass junge Menschen sich oft nicht gehört fühlten, widersprach sie jedoch: „Ich habe das Gefühl, dass wir Jugendliche Teil der aktuellen Geschichte sind und sie nicht nur erleiden. An unserer Schule hatten wir zum Beispiel Mitspracherecht, wir konnten sagen, dass es für uns so, wie es ist, nicht funktioniert.“
Um zu wissen, was nicht funktioniert, fehlt Carl-Philipp Spahlinger der Direktvergleich. Der 20-Jährige studiert seit dem Wintersemester 2020 an der Humboldt-Universität zu Berlin und bedauerte bei der Diskussion: „Ich habe leider keine Ahnung, wie das normale Studium aussieht.“
Lehrer investieren mehr Zeit
Dr. Felix Steiner, Studienrat am Goethe-Gymnasium Frankfurt, hat bei vielen seiner Schülerinnen und Schüler beobachtet, wie der Wegfall der Struktur verunsichern kann. „Schule ist identitätsstiftend, da gibt es nicht nur sozialen Kontakt, sondern auch einen fest strukturierten Tag mit abwechselnd Unterricht und Pause. Daheim muss man sich selbst organisieren.“ Dies sei vielen Kindern und Jugendlichen nach ersten Startschwierigkeiten gut gelungen, auch mit Hilfe der Lehrer, die den Kontakt im Vergleich zum Präsenzunterricht deutlich intensiviert hätten, zum Beispiel, indem sie auch nach dem Unterricht noch Privatnachrichten mit den Jugendlichen schrieben.
Der Abend im Haus am Dom (alle Diskussionsteilnehmer*innen waren zuvor negativ getestet worden, Publikum war nicht zugelassen) machte deutlich, dass die Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch die Pandemie zwar nicht verzweifelt, gleichwohl aber deutlich ernster und reifer geworden sind.
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Weitere Termine der Frankfurter Hausgespräche:
- 26.5.21, 19.30 Uhr: Sie saßen und tranken am Teetisch - Salons zwischen Aufklärung und Romantik und ihr Nachleben. Freies Deutsches Hochstift, Arkadensaal, Großer Hirschgraben 23-25
- 6.6.21, 19.30 Uhr: Gemeinschaft in der Jüdischen Tradition - Der Stellenwert von gemeinschaftlichen Erfahrungen für die religiöse Praxis. Jüdisches Museum, Lichtbau, Bertha-Pappenheim-Platz 1
- 16.6.21, 19.30 Uhr: Religiöse Gemeinden in der Corona-Krise. Was uns fehlte – was bleiben wird. Haus am Dom
Weitere Informationen zur Reihe gibt es auf www.frankfurterhausgespraeche.de.
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