FRANKFURT, 31.03.2022
Schönheit, die herausfordert
Rahel Welsen wird oft verwechselt. Und das, obwohl die Fotografin aus Darmstadt einen fast unverwechselbaren Look hat. Sie trägt Glatze – und ein strahlendes, selbstbewusstes Lachen dazu. „Wenn Frauen die Haare fehlen, fehlt ein wesentliches optisches Merkmal, an dem das Gegenüber sich orientieren kann“, sagt Rahel Welsen. Manche Menschen, die ihr begegnen, so ihre Erfahrung, würden sich später kaum noch an ihr Gesicht erinnern, sondern vor allem an ihre Glatze, die in ihrer Besonderheit andere Merkmale überstrahlt. Dann passiert es, dass sie mit anderen glatzköpfigen Frauen verwechselt wird, die eigentlich ganz anders aussehen.
Mit genau diesem Effekt spielt sie in ihrer Ausstellung „Glatze zeigen“, die am Mittwochabend im Haus am Dom eröffnet wurde und dort bis zum 29. Mai zu den Öffnungszeiten des Hauses zu sehen ist. Dafür hat sie 20 Frauen und sich selbst portraitiert, alle im gleichen Winkel fotografiert, alle hell ausgeleuchtet, die Augen auf gleicher Höhe, das Gesicht ernst. „Ich wollte bewusst eine Vergleichbarkeit der Bilder herstellen, deshalb habe ich immer den gleichen Studioaufbau gewählt“, sagt Rahel Welsen. Das war auch eine technische Herausforderung: „Ein bisschen so, als ob man Passbilder für einen biometrischen Ausweis fotografiert“, schmunzelt sie.
Eigene Wahrnehmung schärfen
Auf den Betrachter wirken die Portraits zunächst sehr ähnlich, eben durch den nackten Kopf und den ebenfalls nackten Hals- und Schulterbereich. Doch beim näheren Beschäftigen mit den Gesichtern der Frauen wird schnell klar, wie unterschiedlich sie aussehen. Allein schon die Augen der Modelle, die leuchtend in Szene gesetzt sind und die ganz unterschiedliche Geschichten erzählen. Mit der bewusst gewählten Gleichförmigkeit fordert die Fotografin den Betrachter heraus – und sie fordert dazu auf, Vorurteile und Schönheitsideale zu hinterfragen: „Man muss seine Wahrnehmung schärfen. Wenn man fokussiert schaut, bemerkt man plötzlich sehr große Unterschiede.“
Für Rahel Welsen war die Arbeit an den Portraits in erster Linie eine Art Selbsttherapie. 2012 verlor sie ihre Haare durch die Krankheit Alopecia, umgangssprachlich auch bekannt als kreisrunder Haarausfall. „Ich musste mich auf der mir eigenen Art mit dem Problem beschäftigen – und da ich Fotografin bin, habe ich das durchs Fotografieren getan.“ Welsen suchte über Freunde und in einem Internet-Forum, in dem sich Betroffene austauschen, Frauen, die Lust auf ein Portrait-Shooting hatten. „Bei der Arbeit war es mir besonders wichtig, dass niemand sich bloßgestellt fühlt“, sagt die Darmstädterin. „Die Frauen sollten würdevoll wirken.“ Dazu trägt bei, dass Rahel Welsen die Geschichten ihrer Modelle auf Texttafeln ebenfalls zum Teil der Ausstellung macht. Denn die Glatzen allein erzählen nie die ganze Geschichte.
Sie spiegelt sich in den Portraits
Alle portraitierten Frauen leiden unter Alopecia; Krebspatientinnen sind nicht unter den Modellen. Das liege daran, dass sie die Frauen im Internet-Forum für speziell diese Krankheit angesprochen habe, erklärt Welsen. Und ein bisschen liegt es auch daran, dass sie sich und ihre persönliche Geschichte in den Portraits spiegelt. Deshalb sind auch keine Männer unter den Portraitierten.
Neben der Selbsttherapie versteht sie ihre Bilder aber auch als politisches Statement, als Aufruf, toleranter mit der Individualität von Menschen umzugehen. „Wir sollten akzeptieren lernen, dass andere nicht einer gewissen Norm entsprechen oder Erwartungen erfüllen wollen.“ Und sie versteht sie als Ermutigung. „Vor einiger Zeit habe ich die Ausstellung schon einmal in Darmstadt gezeigt, und danach haben einige Ausstellungsbesucherinnen ihre Perücken abgenommen“, berichtet Welsen.
Verpasste Chance
Natürlich hat auch sie den Eklat rund um Will Smith bei der diesjährigen Oscar-Verleihung verfolgt. Dort hatte der Schauspieler den Moderator auf der Bühne geohrfeigt, weil dieser eine flapsige Bemerkung über den Haarausfall von Smiths Ehefrau gemacht hatte. „Man spürt seine Betroffenheit, denn manchmal ist der Haarausfall für Partner schlimmer als für die Betroffenen selbst“, so Welsen. „Ich habe deshalb Nachsicht mit ihm, auch wenn seine Reaktion total daneben war. Aber vor allem war es eine verpasste Chance. Denn er hätte die Möglichkeit gehabt, ein Millionenpublikum über Alopecia aufzuklären, und hat es nicht getan.“
Das Publikum, das zur Vernissage ins Haus am Dom gekommen war, reagierte mit starken Emotionen auf die Bilder. „Was macht Haar mit mir? Verstecke ich mich dahinter – und wie würde ich damit umgehen, wenn ich es nicht mehr hätte?“, fragte eine langhaarige Besucherin. Und eine Andere sagte: „Diese Ausstellung kann Frauen, die unter Haarausfall leiden oder eine Krebstherapie vor sich haben, Mut machen. Denn die Bilder sagen: ,Seht her, das sieht toll aus!‘“
Das findet Rahel Welsen übrigens auch selbst. Natürlich sei es 2012, als ihr die Haare ausgingen, nicht einfach gewesen, sich an die neue Situation anzupassen. Doch für Welsen, die sportlich aktiv ist und sich nicht einschränken wollte, kamen Perücke oder Mütze nicht infrage. Also beschloss sie, Glatze zu tragen. Und sagt heute: „Wenn mir die Haare nachwachsen würden, würde ich sie wieder abrasieren.“
Die Ausstellung läuft bis 29. Mai im Haus am Dom, die Öffnungszeiten sind Montag bis Freitag 9 bis 17 Uhr, Samstag und Sonntag 11 bis 17 Uhr. Der Eintritt ist frei.
Führungen mit Rahel Welsen gibt es am Sonntag, 3. April 2022, 14 Uhr und 15 Uhr, sowie am Samstag, 30. April 2022, 11 Uhr und 14 Uhr. Für die Führungen bitte anmelden unter: ch.keim@bistumlimburg.de. Zum Rahmenprogramm gehört außerdem der Vortrag „Die Phalanx der schönen Oberflächen“ am 28. April, 19.30 Uhr, in dem Autor und Politikwissenschaftler Dr. Paul-Hermann Gruner unter anderem darüber spricht, wie und warum die populäre Frauenzeitschrift auch nach fünf Jahrzehnten Neuer Frauenbewegung erfolgreich konventionelle Konstruktionen von Schönheit und Weiblichkeit wiederkäut. Der Eintritt zum Vortrag kostet 5 Euro, weitere Informationen gibt es auf www.hausamdom-frankfurt.de.
Bitte beachten: Das Haus am Dom macht ab dem 2. April 2022 von seinem Hausrecht Gebrauch. Im gesamten Haus besteht nach wie vor die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes. Diese Maßnahme dient dem Schutz unserer Gäste und unsren Mitarbeitern.
Ein Video zur Vernissage wird bald auf dem YouTube-Kanal des Hauses am Dom zu finden sein: www.youtube.com/hausamdom.