FRANKFURT, 12.04.2022
"Sex gehört zum biblischen Menschsein"

Die Bibel ist voller Sexgeschichten – das sagte Prof. Simone Paganini vom Lehr- und Forschungsgebiet Biblische Theologie an der Universität Aachen bei der internationalen Tagung „Körper, Eros, Identität - Sexualität und gelingende Beziehungen vom Rand her gesehen“ am Freitag und Samstag im Haus am Dom. Dabei gelang es dem Bibelwissenschaftler, sein Publikum immer wieder zum Lachen und Staunen zu bringen. „Populärkultur kommt oft besser an als Wissenschaft“, beklagte er sich halb im Spaß zu Beginn seines Vortrags, der das Ende des zweiten Panels „Kultur der Eros“ am Samstagvormittag bildete. Dabei muss sich beides nicht ausschließen, wie Paganini selbst eindrucksvoll beweist, immerhin forschte er unter anderem zu biblischen Bezügen in der Filmreihe „Star Wars“ und publizierte zur Erotik in der Bibel das Buch „Unzensiert: Was Sie schon immer über Sex in der Bibel wissen wollten, aber nie zu fragen wagten“ (Herder, 2021).
Mit der zweitägigen Tagung in Frankfurt flankierten die Katholischen Akademien in München, Hannover und Frankfurt die Diskussionen des Synodalen Wegs zum Forum 4 (Leben in gelingenden Beziehungen – Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft). Entsprechend vielseitig war auch die Besetzung der drei Foren, bei denen Theologinnen und Theologen, Islam-Wissenschaftler, eine buddhistische Nonne und zahlreiche weitere Sprecherinnen und Sprecher verschiedenste Perspektiven auf Geschichte, Kultur und Identität von Sexualität eröffneten. Die Tagung im Haus am Dom war die letzte in einer Reihe von fünf namhaften und zum Teil digital dokumentierten Tagungen des Leiterkreises der Katholischen Akademien zwischen 2020 und 2022.
Für jeden Geschmack etwas
Wie unterhaltsam das Alte Testament sein kann, damit überraschte Prof. Simone Paganini das Publikum im Giebelsaal und daheim vor dem Livestream. Im Alten Testament finde sich, wenn es um Sex gehe, für jeden Geschmack etwas – und auch immer das Gegenteil davon, sagte Paganini. Liebe und Leidenschaft, Unterdrückung und Gewalt: Die Bibel sei voller Sexszenen, auch wenn diese nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen seien. Dabei würde häufig das Verb „Erkennen“ genutzt, um sexuelle Handlungen zu beschreiben. „Das ist ein bisschen prüde übersetzt“, befand Paganini. Er stellte klar: „Erkennen hat mit Sexhaben zu tun, das ,liebende Erkennen‘, auf Griechisch gignosko, auf Aramäisch yadach, ist Umschreibung dafür, dass Mann und Frau ,zu einem einzigen Fleisch‘ werden, wie es in Genesis 2,24 beschrieben wird.“
Am Anfang gab es kein Geschlecht
Das biblische Menschenbild sei stark von Geschlechtlichkeit geprägt, denn „die Bibel erzählt die Geschichte von Menschen, und Menschen werden durch Geschlechtlichkeit definiert.“ Zwar seien zur Zeit der Bibel nur zwei Geschlechter bekannt gewesen, doch zugleich habe es am Anfang kein Geschlecht gegeben: „Adam heißt zunächst nicht Adam, er heißt zunächst einfach ,Erdling‘, benannt nach etwas, das aus Erde besteht. Diese Erde wird erst später geteilt in Mann und Frau.“
Und auch auf späteren Seiten geht es zur Sache: Abram heiratet Sarah, Hagar und weitere Frauen, Jakob heiratet Rachel und Lea und zeugt Kinder mit ihren Mägden. „Das Liebesleben der Erzeltern war durchaus turbulent und die biblischen Autoren hatten, anders als ihnen heute gerne unterstellt wird, keinerlei Berührungsängste in Sachen Sex“, erklärte Paganini. Frei von einer sehr viel später einsetzenden Moralisierung hätten sie die Dinge beim Namen genannt und vom Leben ihrer Protagonisten in seiner ganzen Bandbreite berichtet.
Sex und Mord
Auch zeigte er auf, dass es auch „Sex and Crime“ in der Bibel gibt, also Geschichten, in denen mit Hilfe von sexuellen Handlungen Morde begangen werden. Jael und Sisera, Judith und Holofernes: „Diese lügenden, verführenden und mordenden Frauen werden in der Bibel als positive Personen dargestellt, weil ihr Handeln der Sache Gottes dient.“
Paganini unterstrich, dass es auch Stellen gebe, an denen gleichgeschlechtliche Liebe thematisiert werde, zum Beispiel bei Rut und Noomi oder David und Jonathan. Mit der Liebe zwischen Mann und Mann oder Frau und Frau habe die Bibel überhaupt kein Problem: „Was die Bibel brandmarkt, beschreibt das, was wir heute Vergewaltigung oder Pädophilie nennen. Dies wird nicht verurteilt, weil beide Beteiligten dasselbe Geschlecht haben, sondern weil ein Partner unmündig, machtlos und dem anderen schutzlos ausgeliefert ist.“
Texts of terror
Unter diesen negativen Beispielen ist eine Vergewaltigungsgeschichte, nämlich die von Amnon und seiner Halbschwester Tamar. Amnon vergewaltigt Tamar, doch weil sein Vater David ihn liebt, unternimmt er nichts, um Tamar zu schützen. Die feministische US-Bibelwissenschaftlerin Phyllis Trible beschreibe diese und ähnliche Erzählungen als ungelöste „texts of terror“, so Paganini: „Aus heutiger Sicht kann man sie weder erklären noch rechtfertigen. Und doch: Indem solche Schreckenstaten überhaupt erzählt werden, fordert der biblische Text auf, nicht zu schweigen.“ Auch heute gelte es, all den namenlosen Frauen und Entrechteten in der Welt, denen auf irgendeine Weise Gewalt widerfahre, eine Stimme zu geben. „Das ist keine leichte, aber eine immens wichtige Aufgabe!“
Für den Bibelwissenschaftler ergeben sich aus den Beobachtungen drei Thesen zur Darstellung von Sexualität in der Bibel. 1: Sexualität, das zeigen die unterschiedlichen biblischen Erzählungen, gehört ganz wesentlich zum Menschsein in der Bibel dazu, wird nicht ausgeklammert und ist explizit von Gott gewollt. 2.: Sex ist nicht nur eine positive Kraft, er kann auch immensen Schaden anrichten und Menschen körperlich und seelisch verletzen. 3.: Die Bibel kennt zwar nur die Ehe zwischen einem Mann und einer oder mehreren Frauen, gleichgeschlechtliche Ehen oder stabile Liebesbeziehungen kommen in den alten Texten nicht vor. Aber: Sie erzählen sehr wohl von gleichgeschlechtlicher Liebe – mit einem wertschätzenden Blick. Fragen nach Gender, Frauenrechten oder der Rolle der Frau in einer sexuellen Beziehung würden grundsätzlich nicht so gestellt, wie wir sie heute stellen. „Dennoch bringen Erzählungen wie die von Rut oder Judith unverkennbar eine emanzipierte weibliche Perspektive ins Spiel“, schloss Paganini.
Sex gehört in der Bibel also dazu, in der Kirche wird sie aber nach wie vor moralisiert. Das Resümee des Bibelwissenschaftlers lautet deshalb: „Wie viel schöner wäre die Welt, wenn der Papst mehr in der Bibel lesen würde.“
Alle Vorträge der zweitägigen Tagung gibt es als Videos auf www.youtube.com/hausamdom und hier: