FRANKFURT, 20.05.2022
„Wir brauchen eine eucharistische Vision für die Welt!“
Bildergalerie
Vor einiger Zeit taufte Dr. Margot Käßmann in Berlin zwei Mädchen, drei und fünf Jahre alt. Die Mutter war evangelisch, der Vater armenisch-orthodox. „Die Seite des Vaters fragte mich, ob meine evangelisch gespendete Taufe denn wirklich auch orthodox anerkannt sei. Und ich konnte sagen: Ja! Und zwar als Folge der Lima-Erklärung von 1982, in der alle christlichen Kirchen vereinbart haben, in die eine Kirche dieser Welt zu taufen.“ Eine damit verbundene Frage beschäftigt Käßmann: Wenn alle getauften Kinder Teil derselben Familie Gottes seien - „warum feiern wir Katholiken, Orthodoxen, Protestanten und andere nicht auch gemeinsam Gottesdienst, warum feiern wir getrennt, warum schaffen wir es nicht, diese Familie Gottes im Gottesdienst abzubilden?“
Eucharistie 2.0
Käßmann, ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), sprach beim Walter-Dirks-Tag 2022 im Haus am Dom über Verbindendes, Trennendes und die Überwindung von Unterschieden. Käßmann war zum Gedenktag, der anders als der alle zwei Jahre vergebene Walter-Dirks-Preis jährlich stattfindet, eingeladen, um über ihre vor mehr als 30 Jahren verfasste Dissertation zu sprechen, die den Titel „Die eucharistische Vision. Armut und Reichtum als Anfrage an die Einheit der Kirche in der Diskussion des Ökumenischen Rates“ trägt. Im Haus am Dom leistete sie ein Update ihres frühen theologischen Entwurfes und diskutierte mit Stadtdekan Dr. Johannes zu Eltz zu einer Vision und Praxis einer „armen Kirche für die Armen“ (Papst Franziskus) im 21. Jahrhundert und einer schöpferischen und versöhnten Solidarität am „Tisch des Herren“ als eucharistische Vision 2.0. Dabei passte der Anlass gut, denn Dirks, ein Frankfurter Publizist, Pazifist und Sozialist, der 1901 geboren wurde und 1991 starb, hatte seinerzeit seine katholische Kirche mit Blick auf die sozialen Spaltungen lokal und global zu einem entschiedenen ökumenisch- christlichen Handeln aufgerufen.
Für Gerechtigkeit
Käßmann, die humorvoll und lebendig von ihrer Dissertation erzählte, bekannte offen, sie habe sich über das Interesse mehr als 30 Jahre später gewundert. Die Theologin berichtete, ihr Doktorvater habe sie damals, Ende der 80er Jahre, gefragt, wofür sie sich interessiere. Und sie als junge Pfarrerin und Mutter – und damals schon Mitglied im Exekutivausschuss des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) habe leidenschaftlich geantwortet: „Für Gerechtigkeitsfragen!“ Schon 1920 sei auf der Weltmissionskonferenz im schottischen Edinburgh die Frage gestellt worden, wie glaubwürdig Mission betrieben werden kann, wenn die Trennung der Kirche fortbestehe. „Ist es nicht absurd, wenn wir einen Menschen in Indien von einem in Europa geteilten Christentum überzeugen wollen?“, fragte die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende die Zuschauer im Haus am Dom.
Käßmann, die von 1983 bis 2002 dem ÖRK als zentralem Organ der ökumenischen Bewegung angehörte, erläuterte, innerhalb des Rates habe es zwei Lager gegeben: „Die einen wollen die Einheit der Christen im Rahmen der Glaubens- und Kirchenverfassung, die anderen sagen, wir brauchen eine praktische gemeinsame Kirche.“ Ihre eigene Ansicht: „Im täglichen Miteinander merken wir schon Unterschiede, und verschieden können wir gerne bleiben. Wir brauchen aber eine eucharistische Vision, für den Tisch des Herrn, aber auch in der Welt!“
Eucharistie und das Abendmahl seien der Ort, an dem die Lehre der Kirche und die Ethik zusammenkommen. Diese dürften nicht auseinanderfallen, wenn die Kirche glaubwürdig Kirche sein wolle – gerade in der heutigen Zeit, in der Christinnen und Christen in der Minderheit seien.
Kartoffeln mit Soße
Eng verbunden ist diese Glaubwürdigkeit für sie mit der Frage von (gemeinsamer) Eucharistie. In anderen Ländern sei das Abendmahl oft genau das, nämlich eine richtige Mahlzeit, berichtet Käßmann: „auch mit Kartoffeln im Soßentopf, der in die Mitte gestellt wird.“ Eucharistie als gemeinsames Essen also, als familiäre Zusammenkunft. Warum nicht auch bei uns? Wer gemeinsam Eucharistie feiere, sei Gemeinde in Solidarität mit allen in der Welt. Das fordere jedes partikulare und nationalistische Denken heraus. „Wenn wir in die eine Familie taufen, gibt es keinen Nationalismus mehr. Wenn wir Brot und Wein teilen, gibt es keinen Besitz mehr. Wenn wir wirklich Geschwister im Glauben sein wollen, kann uns diese Überlegung nicht kalt lassen.“
Das Konsequent-Sein der Kirche in ihrer eucharistischen Botschaft konnte Stadtdekan Dr. Johannes zu Eltz, Käßmanns Gesprächspartner auf dem Podium, nur unterstreichen. Immer wieder hatte er sich in der Vergangenheit auch für eine gewissensgeprüfte wechselseitige Teilnahme an der Eucharistie ausgesprochen, so wie sie der Ökumenische Arbeitskreis katholischer und evangelischer Theologen (ÖAK) in seiner Studie „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ beschrieben hatte. „Die Eucharistiefeier lebt von der Glaubwürdigkeit der symbolischen Performance – und sie wird zerstört, wenn die Handlung dem stark wiederspricht, was vorher behauptet wird.“ Er forderte: „Die Kirche darf Eucharistie für alle nicht daran scheitern lassen, dass sie esoterische Zugangsbeschränkungen formuliert.“ Zu Eltz stellte fest, er sei durch Jesus, der sich immer wieder in der Eucharistie auch an ihn wende, immer weniger katholisch und „hoffentlich immer mehr christlich geworden“.
Linksgedrehte Kirche
Zum Thema Armut sagte zu Eltz, die katholische Kirche sei keine arme Kirche, sondern reich an Menschen, an finanziellen Möglichkeiten und Gebäuden, reich an gesellschaftlichen Wirkungsmöglichkeiten. In Frankfurt sei die katholische Kirche, auch dank Männer wie Walter Dirks, „linksgedreht“. Sie trete für soziale Belange ein und sei in all ihren Einrichtungen sensibel für die Bedürfnisse derer, denen es nicht gut geht. Doch obwohl die Armut ein zentraler Wirkungskreis der Kirche sei, müsse Kirche selbst immer von der Eucharistie aus gedacht werden. „Denn den christlichen Impuls gibt es ohne Jesus nicht, und auch keinen Einsatz für die Armen. Zur Eucharistie gibt es keine Alternative.“
Zu Eltz räumte ein, Käßmanns „Vision einer versöhnten Welt“ sei schon schöner und stärker als die Annahme, dass die Kirchen in versöhnter Verschiedenheit zusammentreten können. „Ich sehe aber nicht, wie Ihre Vision gewonnen werden könnte“, so der Stadtdekan. Verschiedenheit sei ja aber nicht schlimm, lautete Käßmanns Erwiderung: „Ich kann in anderen Kirchen und in anderen Ländern dieser Welt sehen, dass es anders zugeht als bei mir zuhause, doch trotzdem muss mir das nicht fremd sein. Wir teilen Brot und Wein zu seinem Gedächtnis, das eint uns.“ Als Gast, fuhr Käßmann fort, müsse man sich doch immer auf Ungewohntes einlassen. Und, fügte sie mit einem Augenzwinkern hinzu, man müsse eben auch damit rechnen, dass der Gastgeber vegetarisch, vegan oder glutenfrei koche.
Der Walter-Dirks-Tag
Julia Wilke-Henrich vom Haus der Volksarbeit, das alle zwei Jahre gemeinsam mit dem Haus am Dom den Walter-Dirks-Preis vergibt, erinnerte an den Publizist, Pazifist, Sozialist und Brückenbauer Dirks, der sich als Bindeglied zwischen Sozialismus und Kirche verstanden habe. Er sei eine wichtige Person in der Gründungszeit des Hauses der Volksarbeit gewesen, einer Einrichtung, die auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs errichtet worden sei, um sich den diakonischen Anliegen der Kirche zu widmen. Inzwischen gibt es dort vielfältige Angebote für Erwachsene, Kinder und Familien.