Frankfurt, 29.09.2025
Sprache als schöpferische Kraft
Die Sonne senkte sich über Frankfurt, als im Haus am Dom zwei junge Literaturtalente ihre Stimmen erhoben. Am Freitagabend wurde der SCIVIAS-Literaturpreis 2025 verliehen. Aus mehr als 480 Einsendungen hatte die Jury die Preisträgerin Flora Weber mit „Flexi Tempus“ ausgewählt, den Förderpreis erhielt Finn Tubbe für „Der Geruch“. Beide gaben dem Abend eine besondere Intensität, weil sie ihre Gewinnertexte selbst vortrugen.
„Ich und Du. Entdeckungen“ lautete das Thema des Wettbewerbs – und es zog sich durch den ganzen Abend: in den Reden, in den Lesungen, in den Gesprächen danach. Es war ein würdiger Abend, der zwischen heiteren und aufwühlenden Momenten pendelte.
Erinnerungen und Resonanzen
Dr. Lisa Straßberger eröffnete die Feier mit einem Dank an die Autorinnen und Autoren, die mit ihren Texten das Motto vielfältig gefüllt hatten. Sie erinnerte daran, dass es beim SCIVIAS-Literaturpreis darum gehe, Momente des Aufbruchs sichtbar zu machen – Situationen, in denen ein Ich sich auf den Weg zum Du macht.
Sr. Dr. Raphaela Brüggenthies OSB aus der Abtei St. Hildegard trat an diesem Abend als Vertreterin der Schirmherrin Sr. Katharina Drouvé auf. In ihrem Grußwort knüpfte sie unmittelbar an das Thema des Preises an. Sie erinnerte an die Begegnung der beiden großen Lyriker Nelly Sachs und Paul Celan in Zürich. Und zitierte aus einem Gedicht, das Celan später daraus formte. Darin klingt das fragile Gespräch zwischen zwei Menschen an, das zwischen Vertrauen und Zweifel, zwischen Nähe und Distanz oszilliert. „Wir wissen ja nicht, weißt du, wir wissen ja nicht, was gilt…“, rezitierte Brüggenthies – und machte deutlich, dass genau diese Offenheit den Kern literarischer Begegnung ausmacht.
Dr. Ralf Stammberger, Leiter des Bereichs Pastoral und Bildung im Bistum Limburg, richtete den Blick auf die Rolle der Sprache selbst. „Wir können nur in Kategorien der Sprache denken und dennoch müssen wir immer wieder reflektieren, dass unser Denken von der Sprache geformt wird und wir unsere Wirklichkeit mit Sprache gestalten.“ Sprache sei also nicht bloß Ausdruck, sondern schöpferische Kraft, die unser Weltverhältnis prägt.
Um die Dringlichkeit dieser Einsicht zu unterstreichen, griff er einen Gedanken des Kirchenvaters Augustinus auf: „Vor aller Sprache gibt es Gefühle und einen Willen. (…) Mit der Sprache treten wir ein in die Stürme des gesellschaftlichen Lebens.“ Für Stammberger ist Literatur genau dieser Ort, an dem die Sprache nicht nur abbildet, sondern Wirklichkeit eröffnet – mit allen Zumutungen, Widersprüchen und Hoffnungen, die im Leben liegen.
Literatur und Glaube
Diese Worte über die Sprache als schöpferische Kraft und als Zugang zu den „Stürmen des Lebens“ bereiteten den Boden für Prof. Dr. Joachim Valentin, Direktor des Hauses am Dom. Er weitete den Blick hin zur Rolle der Literatur im Glauben. „Schreiben heißt sich selber lesen“, zitierte er Max Frisch und ergänzte: „Schreiben heißt Gott und die Welt und die Menschen in sich selber lesen.“ Valentin betonte, dass Katholizismus ohne Literatur schlichtweg nicht denkbar sei. Kunst und Glaube gehörten untrennbar zusammen, weil beide vom Ringen um Wahrheit und Ausdruck lebten. „Gute Literatur hat immer einen Riss wie jedes Kunstwerk – einen Schönheitsfleck, der die Schönheit nicht zerstört, sondern sie überhaupt erst konstituiert“, sagte er. Durch diesen Riss falle ein Licht „von anderswo her“. Es sei jenes unverfügbare Moment, das keine Autorin und kein Autor erzwingen könne – und das doch jede große Literatur auszeichne.
Spiegel und Fenster zugleich
Den Schlusspunkt der Grußworte setzte Dr. Friederike Lanz, Leiterin des Fachteams Kulturelle Bildung und Vertreterin der Katholischen Erwachsenenbildung (KEB). Sie brachte die Bedeutung der Literatur in prägnante Bilder: „Literatur hat eine schöpferische Superkraft. Sie ist Spiegel und Fenster unserer Seele und unseres Daseins.“ Zugleich sei das Erzählen immer auch eine Bewegung nach außen: „Es weitet die Horizonte und ist Bekenntnis zum Dialog: zwischen den Autoren und Lesern, zwischen den Generationen, zwischen den Menschen.“ Damit hob Lanz hervor, was den Abend prägte: den Anspruch, nicht nur Texte auszuzeichnen, sondern Begegnungen zu stiften – zwischen Menschen und zwischen persönlicher Erfahrung und geteilter Wirklichkeit.
Blick der Jury
Den Übergang zu den Lesungen gestaltete Michael Kumpfmüller, Schriftsteller und Mitglied der Jury. In seiner Laudatio würdigte er die beiden Preisträger und hob hervor, wie unterschiedlich ihre Texte das Thema „Ich und Du. Entdeckungen“ entfalten. Kumpfmüller sprach von der Kraft die Literatur gewinnt, wenn sie sich nicht mit schnellen Antworten begnügt, sondern den Raum des Fragens offenhält.
Mit seinen Worten bereitete er das Publikum darauf vor, die Stimmen der beiden Preisträger selbst zu hören. Erst durch diese Lesungen, so Kumpfmüller, werde erfahrbar, was ihre Texte im Innersten tragen. Anschließend machte er die Bühne frei für die erste Lesung des Abends: Flora Weber.
Collage einer Selbstverortung – Preisträgerin Flora Weber
Die 29-Jährige las ihren Text „Flexi Tempus“. Darin entwirft sie eine neugierig komponierte Collage aus fiktiven und erinnerten Begegnungen, durchsetzt mit Gesprächssplittern, aufgelesenen Fundstücken und Zitaten aus sozialen Medien. Der Text zählt auf, sortiert, probiert – und hält so die Suche nach eigenen, unverwechselbaren Gedanken fest. Gerade in dieser Offenheit entwickelt Weber eine Form der Selbstverortung, die zwischen Melancholie und ironischer Distanz schwebt. Zwischen tradierten Mustern und digitalen Sprachfetzen zeichnet sich Stück für Stück eine unverwechselbare Stimme ab, suchend und dennoch entschlossen.
Weber las ruhig und konzentriert, ohne jede Effekthascherei, ganz der eigenen Sprache überlassen. Das Publikum folgte aufmerksam, reagierte mit leisem Schmunzeln auf ironische Passagen und mit gespannter Stille, wenn der Text ernster wurde. So kam die Vielstimmigkeit von „Flexi Tempus“ unmittelbar zur Geltung – amüsant und zart in einem Moment, dann wieder selbstbewusst und scharf.
Präzise Beobachtung – Föderpreisträger Finn Tubbe
Anschließend trug Finn Tubbe den Text vor, für den er den SCIVIAS-Förderpreis 2025 erhielt: „Der Geruch“. Die Erzählung führt in eine Begegnung zwischen einem Sohn und seiner Mutter, geschildert mit schmerzhaft genauer Beobachtung. Die vertrauten Routinen des Gesprächs geraten ins Stocken, sobald sich die über viele Jahre eingeübten Rollen der Beiden verschieben. Tubbe zeigt, wie das Altern und die damit verbundenen Einschränkungen Bindung und Distanz zugleich erzeugen. Zugleich legt er Spuren in die Vergangenheit der Protagonisten, die auf ein Ereignis hindeuten, das Mutter und Sohn zu verbinden und dennoch zu trennen scheint. Nähe und Abwehrkräfte halten sich in einem labilen Gleichgewicht, das die Erzählung bis zuletzt bestimmt. Im eindringlichen Schluss verdichtet sich dieses fragile Verhältnis zu einem Bild, das lange nachhallt.
Tubbes Lesung war zurückhaltend und wirkungsvoll. Geradeheraus überließ er es dem Text, seine Schärfe zu entfalten. So entwickelte sich beim Publikum eine kraftvolle Spannung und reflektiertes Mitfühlen mit dem Sohn in der Erzählung. Der Text verweigerte die Auflösung, lies Fragen zurück und gewann gerade so an Eindringlichkeit.
Zwei Stimmen, ein Thema
Die Lesungen zeigten, wie unterschiedlich das Thema „Ich und Du. Entdeckungen“ literarisch klingen kann: spielerisch-collageartig bei Weber, schonungslos-präzise bei Tubbe. Das Publikum erlebte einen Abend, der zwischen Leichtigkeit und Schwere, zwischen Schmunzeln und Nachdenklichkeit pendelte – und gerade darin seine Wirkung entfaltete.
SCIVIAS-Literaturpreis
Der SCIVIAS-Literaturpreis ist als einziger katholischer Literaturpreis in Deutschland eine bedeutende Auszeichnung in der Literaturszene und hat sich als Plattform für Schreibende sowie aufstrebende Nachwuchstalente etabliert. In diesem Jahr wurde er bereits zum vierten Mal vergeben. Der alle zwei Jahre stattfindende Wettbewerb zeichnet herausragende literarische Werke aus und würdigt das Schaffen talentierter Autorinnen und Autoren.
Initiatoren des Literaturpreises im Bistum Limburg sind die Katholische Erwachsenenbildung (KEB) und die Katholische Akademie Rabanus Maurus (KARM).
Eine Anthologie versammelt die 21 besten Einsendungen zum SCIVIAS-Literaturpreis 2025. Erschienen ist der Band bei Herder (ISBN 978-3-451-03517-3)).